Im Allgemeinen gelten planvoll handelnde Menschen als diszipliniert. Dem liegt ein großer Irrtum zugrunde. Die meisten sind nicht diszipliniert, sie bedienen sich eines Tricks: Struktur.

Disziplin vs. Struktur

Unter einem disziplinierten Menschen stelle ich mir einen Menschen vor, der sich ein Ziel vorgibt und seine Energie dazu benutzt, auf dieses Ziel hinzuarbeiten. Er hält zwar gelegentlich inne, lässt seine Arbeit ruhen und widmet sich anderen Dingen, aber er vergisst nie, dass er eine Aufgabe zu erledigen hat. Er lässt es zum Beispiel zu, dass sein Plan, die Steuererklärung zu vervollständigen, durch ein Saufgelage um eine Woche verschoben wird, aber er denkt daran, an einem ruhigen Abend statt seiner geliebten Lektüre die Steuererklärung auszufüllen. Und wenn am nächsten Tag ein Pflichttermin ansteht, dann gönnt er sich den Spaß, feiern zu gehen, aber mit Maß, sodass er den Pflichttermin gut absolvieren kann.

Der strukturierte Mensch ordnet sein Leben. Er setzt sich Ziele und gedankliche Zeitpläne. Die sehen zum Beispiel so aus: Mo-Fr 8-16 Uhr arbeiten, Mo, Do, Fr. 16:30-18:00 Sport, Sa 08:30-10:00 Sport, Mo-So 19:00 Abendessen, Do. 20-22 Uhr Zeitung lesen, Samstag 12-13 Uhr Wohnung aufräumen, 13-15 Uhr Blogbeiträge schreiben. Der strukturierte Mensch arbeitet seine Pläne ab, hält sie möglichst genau ein und lebt in dem beruhigenden Gewissen, dass sein Leben geplant ist. Die Struktur bietet ihm Sicherheit, sie gleicht allerdings nur seinen Mangel an der Disziplin aus, die er sich so sehr wünscht.

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Struktur hat nicht zwangsläufig etwas mit Ordnung zu tun.

Der Umgang mit dem Ungeplanten

Wenn dem strukturierten Menschen ein Termin in eine verplante Zeit geschoben wird, beginnt das Heulen und Zähneklappern. Zum Beispiel ein Termin wie „Freitag 20:00 Vorglühen“. Der strukturierte Mensch weiß vorab, dass das Organisation bedarf. Er kürzt die Sport-Einheit um 30 Minuten, zieht das Abendessen eine halbe Stunde vor … Und cancelt seine Samstags-Pläne. Denn er glaubt, ähnlich wie der disziplinierte Mensch alles auf die Reihe zu bekommen, weiß aber, dass er als exzessiver Charakter die notwendige Disziplin vermissen lässt, das zu tun. Deshalb hat er überhaupt die Struktur.

Es kommt natürlich, wie es kommen muss. Der strukturierte Mensch kommt am Samstagmorgen um 09:00 nach Hause (womöglich ohne Erinnerungen an den Heimweg) und legt sich ins Bett. Das einzige, was er weiß ist, dass er nicht seit 08:30 beim Sport ist. Er verschläft die Zeiten für „Wohnung aufräumen“, das ihm am Sonntag noch irgendwie gelingen wird, und „Blogbeiträge schreiben“, was er nie nachholen wird.

Der disziplinierte Mensch, so er überhaupt in diese Lage gekommen wäre, sieht darin kein Problem. Er hat mehrere Handlungsoptionen: Auch kornblumenblau lässt sich die Wohnung aufräumen, Sport ist potentiell ebenfalls möglich. Treibt den Alkohol umso schneller aus dem Körper. Was die Blogbeiträge angeht, verlegt er sich auf die Feststellung, dass er gerade ohnehin keine Idee hat und widmet die Zeit in „Nickerchen“ um. Alternativ kann er natürlich entscheiden, dass er einen Tag Pause vom Sport braucht und die Wohnung nicht so schlimm aussieht. Dann schläft er eine Runde und schreibt dann Blogbeiträge.

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So geht Disziplin: Überlebende eines Junggesellinnenabschieds. 😉

Struktur ist auch nur ein Mangel an Disziplin

Der disziplinierte Mensch wacht um 15:00 wieder auf und freut sich über das rauschende Fest am vergangenen Abend, über den gelungenen Exzess. Denn nur, wer gelegentlich über die Stränge schlägt, kann sich an den Strängen erfreuen, aus denen das Leben besteht. Dann nimmt er dank seiner Zielstrebigkeit seine Pläne wieder auf.

Der strukturierte Mensch wacht um 15:00 wieder auf und grämt sich, dass alle seine Pläne durcheinander gekommen sind. Das dauert noch einmal zwei Stunden, sodass seine Struktur weiter bröselt. Und er sich noch mehr grämt. Bis er den gänzlich unproduktiven Tag abhakt und pünktlich wie geplant um 23:00 ins Bett kriecht. Damit hat er wenigstens einen Punkt seines Tagesplans erledigt.

Es mögen nur Nuancen sein, die strukturierte und disziplinierte Menschen in der Außenperspektive unterscheiden. In der Binnenperspektive macht es einen gewaltigen Unterschied, ob man ständig unterbewusst damit beschäftigt ist, ein Ziel zu verfolgen oder sehr bewusst eine Tabelle im Kopf hat, die es abzuarbeiten gilt, damit das Chaos der eigenen Zügellosigkeit nicht das Leben beherrscht. Denn der strukturierte Mensch ist zutiefst undiszipliniert – und die Struktur legt er sich auf, weil er sich selbst nicht leiden kann. Doch was bleibt ihm auch anderes übrig, wenn er nicht unter die Räder kommen will?

Alle Erlebnisse, die in diesem Blogbeitrag angedeutet werden, sind natürlich fiktiv, wegen ihrer Greifbarkeit ausgedacht. Lediglich die Behauptung, Sport treibe den Alkohol aus dem Körper, die kann ich bestätigen.

50 Kommentare zu „Disziplin und Struktur

  1. Hübsche Wortspiele und Überlegungen…ein bisschen von beidem braucht sicher jeder Mensch, um gut durchs Leben zu kommen. Wenn ich bspw. nicht so diszipliniert gewesen wäre, mein Studium zu strukturieren, wäre ich heute sicher nicht da, wo ich bin. LG Alexa☕

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    1. Dies sehe ich ähnlich. Man muss schon ganz schön diszipliniert sein, um ganz undiszipliniert zu strukturieren :-P. Ich jedenfalls bin ganz gewiss keins von beiden. Wahrscheinlich ist deswegen nichts aus mir geworden 😉

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    2. Ich hab Wortspiele in den Beitrag eingebaut? Ups … Das war diesmal gar nicht so beabsichtigt.
      Die meisten Menschen sind sicherlich Mischtypen, mich haben in dem Fall aber die Ausnahme-Erscheinungen interessiert, die es ja auch gibt. Ich musste mir meine Strukturiertheit hart erarbeiten. *g*

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  2. Oh Mann, jetzt muss ich den Rest des Tages überlegen, ob ich diszipliniert oder strukturiert bin oder doch einfach nur wirr und chaotisch. Dabei wollte ich doch heute eine bereits begonnene Präsentation fertigstellen, einen sehr wichtigen Text sehr grundlegend überarbeiten und eine 100-seitige Arbeit konzentriert lesen.

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      1. Nun, tatsächlich bin ich gar nicht wirr und künstlerisch schon gar nicht, aber weder strukturiert noch diszipliniert sind Vokabeln die in meiner Selbstbeschreibung vorkämen. Strukturiert nur im Zusammenhang mit Prokrastination. Nach einem Tag des Nachdenkens bin ich jetzt aber zu dem Schluß gekommen, dass ich strukturierte und disziplinierte Tage habe. Wenn ich mich entscheiden muss, nehme ich beides.

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        1. Um es mal so zu sagen: Meine Überlegungen sind ja nur eine Heuristik. Die wenigsten Menschen sind nur strukturiert oder zielstrebig oder prokrastinierend oder faul (was ich als Gegenkategorien begreifen würde). Ein lupenreiner strukturierter Mensch hätte wahrscheinlich eine Autismus-Diagnose in der Tasche. „Normale“ Menschen bewegen sich irgendwo in diesem Spannungsfeld. Aber mir fällt der Unterschied immer wieder auf.

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    1. Zu viel Plan IST hinderlich. Das ist ja das Problem eines strukturierten Menschen … Hab ich gehört … *hust* Aber ehrlich: Ich beneide Menschen manchmal um ihre Spontaneität. Da ich ja zusätzlich noch Bundesbedenkenträger bin, kann ich mir die höchstens einmal in der Dekade leisten. *g*

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  3. Spannende Differenzierung, fürwahr. Allerdings geht sie mir nicht weit genug, da ich mich nicht wiederfinde: Strukturiert bin ich schon mal nicht, aber diszipliniert leider auch nicht. Wie würdest Du denn z.B. jene bezeichnen, die eher spontan das erledigen, was nicht mehr aufschiebbar ist? Aber bitte nicht „Prokrastinatoren“ oder, noch schlimmer, einfach „faul“ 🙂
    Liebe Grüße!

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    1. Ich habe ja auch keinen Anspruch, die menschliche Gesellschaft erschöpfend zu typologisieren. Das hier war nur ein kleiner Versuch, ein wenig zu strukturieren, einem inneren Bedürfnis entsprungen – und zur Klärung, warum genau ich manchmal so neidisch auf zielstrebige Menschen bin.
      Was das andere Ende der Skala angeht, würde ich den wesentlichen Unterschied zwischen Prokrastinierern und Faulen übrigens dort ziehen, dass Prokrastinierer sich für ihre Faulheit entscheiden, d. h. um die Prioritäten wissen, aber darauf pfeifen. Dann gibt es noch Sprunghafte und zuletzt die Lebenskünstler. Sie unterscheiden sich von den Faulen, dass sie ihr Leben auf die Reihe bekommen, von den Prokrastinierern, dass sie sich nicht bewusst entscheiden, sondern es einfach passiert. Echte Lebenskünstler sind aber selten (bevor du dir zu viel einbildest … denk erstmal gründlich drüber nach 😉 ), ebenso wie echt faule, strukturierte und zielstrebige Menschen.

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    1. Anderen was vorschreiben kann ich auch verdammt gut. 🙂
      Ich würde übrigens sagen, dass du mit deinem Sportprojekt auf einem guten Weg bist und derzeit lernst, dir selbst Struktur zu geben. Über den Sport habe ich das übrigens auch gelernt.

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  4. Der letzte Absatz vermag (zumindest mich) nicht so recht zu überzeugen ;). (Und ich meine nicht das mit dem Alkohol. Das stimmt.)
    Ansonsten finde ich die Überlegungen sehr treffend!

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    1. Dabei weiß ich tatsächlich nur das mit dem Alkohol und dem Sport aus Erfahrung. *gg* In Wirklichkeit war das
      „Bis er den gänzlich unproduktiven Tag abhakt und pünktlich wie geplant um 23:00 ins Bett kriecht.“
      nämlich ganz anders. Bis 23 Uhr hätte ich nie durchgehalten. 😉

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  5. Vorhin wusste ich noch, was ich hier kommentieren wollte. Es wäre ein brillanter Kommentar von historischer Güte* gewesen. Keine Peilung, was das gewesen sein könnte, aber immerhin hatte ich das Ziel noch vor Augen: Hier irgendwas schreiben. Ich finde, das ist mir ganz und gar gelungen.

    * Die Definition für „historische Güte“ habe ich leider verlegt.

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  6. Gekonnt dargestellt 🙂 ich sehe die Unterschiede ständig vor meinen eigenen Augen: Ich bin diszipliniert, mein Freund „lediglich“ strukturiert. Wir kommen beide gut über den Tag, aber in einem Punkt unterscheiden wir uns massiv: Wie du beiläufig am Ende erwähnst, istd er disziplinierte unterbewusst ständig mit seinem Ziel beschäftigt – einer der Gründe, warum ich nie zur Ruhe komme. Mehr ein Fluch als ein Segen, wenn du mich fragst. Mein Freund dagegen hat in seiner Tabelle auch einige Leerstellen, die extra dem Faulenzen und Entspannen gewidmet sind. Oft kann ich diese Zeit nicht entbehren. Und ohne Struktur fällt es einem auch sehr viel leichter, immer wieder neue Ausreden zu finden, warum heute mal wieder kein Sport gemacht wird…^^

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    1. Krass … Leerstellen zum Entspannen ist ja noch viel mehr Hardcore als ich es pflege (und ich dachte, geplante Zigaretten seien schon grauenhaft – okay, sie sind es auch). Wobei der Strukturierte in ständiger Befürchtung, dass seine Pläne nicht gelingen auch sehr unruhig werden kann.
      Aber schon erstaunlich, ich hätte dem Typ „zielstrebig“ eher zugetraut, sich spontan die Pause zu gönnen, wenn er sie will oder braucht, weil er im Unterschied zum Typ „strukturiert“ eben über den Verhältnissen steht. Danke für die Ergänzung. 🙂

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      1. Ist bei mir leider nicht der Fall 😛 und mein Freund nimmt sich auch mal einem kompletten Samstag frei zum Gammeln – da würde ich durchdrehen, weil ich dann an dem Tag ja nichts „geschafft“ habe^^‘

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        1. Das riecht aber fast danach, als seist du strukturierter, als du zugeben willst. Gerade wenn du anfängst, Dinge zu schaffen, nur damit du was geschafft hast. Schränke ausmisten oder so. Typisches Strukturiertenverhalten. 😉

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          1. Mhm, vielleicht gibt es auch eine Mischform?^^ Eine Struktur im Sinne von festen Zeitfenstern habe ich auf jeden Fall nicht. Ich arbeite kontinuierlich und nur bedingt planvoll. Dennoch gibt es klare Ziele, die ich mir am Morgen setze und die abends geschafft sein sollten. Und das dann egal wie… Es gibt kein Zeitfenster, das mich zum Abbruch zwingt, wenn ich mehr Zeit brauche, als ich veranschlagt habe. Und dann kann ich auch alles andere für diese eine Aufgabe hinten runter fallen lassen. Die „Tagesaufgabe“ muss erfüllt werden. Willkommen in meiner zwanghaften Welt^^

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            1. Die Mischformen zwischen den Beiden sind der Normalfall, würde ich sagen. Sehr strukturierte und sehr zielstrebige Menschen sind gleichermaßen selten. Die Differenzierung ist aber spannend, wenn man sich selbst reflektieren will, so wie du es tust.
              Ich würde mich auch als strukturiert beschreiben. Konkrete Zeitfenster habe ich dennoch nicht. Aber dafür schlechte Laune, wenn ich um halb Fünf nicht beim Sport bin. Der Feiertag übermorgen ist übrigens auch eine Katastrophe. 😅

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        1. Ich bin auf jeden Fall noch älter. Und ja! Es wird schlimmer. 🙂 Letzten Samstag bin ich mit einem leeren Wagen zum Schrottplatz gefahren, weil ich vergessen hatte, ihn zu beladen.

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            1. War zu schwach, ihn allein in den Container zu bekommen. Und außerdem hatte ich schon die Rücksitze umgeklappt! Das wäre mir so verschwenderisch vorgekommen.

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  7. Ich finde mich heir erschreckender weise in einer der beschrieben Typ Menschen wieder…sollte ich mir jetzte Sorgen machen? ^^ Ich gehe mal darüber nachdenken, danke für deine Anregungen, die ich durchaus interessant fande zu lesen.

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    1. Danke sehr. Ob du dir Sorgen machen musst, hängt von verschiedenen Dingen ab. Wenn du dich im zielstrebigen Menschen wiedererkannt hast, solltest du dir sorgen machen. Wenn du dich im strukturierten Menschen wiedererkannt hast, solltest du dir nur sorgen machen, wenn du dem Autoren auf die Füße treten willst. *gg*

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      1. Haha 😀 ja, da magst du wohl Recht haben 😉 Ich fande die Aussage sehr mutig und interessant zu gleich, dass man als extremer Planer eigentlich seine Undisziplinierteheit (ist das ein Wort?) verstecken will und sich durch die extrem Plänen und das Abhaken und Einhalten von Zeiten sicher fühlt etc. Früher war ich da nicht so, seit meinem Studium aber schon.

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        1. Ach, ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, mit meinen Schwächen lieber zu prahlen statt sie zu verstecken. Das macht sie erträglicher. Von daher würde ich es nicht so mutig nennen. Und „Undiszipliniertheit“ (ohne das E) ist natürlich ein Wort. Das ist mein zweiter Vorname. Ich habe heute um 14:00 gefrühstückt. 😀

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          1. Ja, mag sein aber diese „Unterstellung“ war mir bis jetzt einfach neu 😀 Aber ich gebe zu, da ist was wahres dran. Okay^^ Haha 😀 Ich bin meistens vormittags sehr produktiv und dann geht bei mir nachmittags absolut gar nichts mehr und ich starre vor mich hin und abends bin ich dann frustriert weil ich nicht so viel geschafft habe wie ich wollte 😀

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            1. Ich bin tendentiell auch vormittags produktiver, aber wenn aus dem Spieleabend mit Rotwein eine Rotwein-Nacht mit Spielen wird … Und dann muss ja erst der Alkohol ausgeschwitzt werden, bevor man was essen kann … 😉

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