Anderwelt oder Anderswelt meinen in der keltischen Mythologie die Wohnorte mystischer Wesen. Blogger*innen sind mystische Wesen, deren Wohnort jenseits der gewöhnlichen Welt sind, nämlich im Netz. Ich finde diese Analogie schön. Und das Fugen-S in Anderswelt hässlich. Deshalb sammeln sich in der Anderwelt Blogbeiträge, die mir im vergangenen Monat besonders aufgefallen sind.
Schlagwort: Flucht
Seit 18 Wochen portraitiere ich mich jeden Sonntag. Ein Jahr lang. Und ein paar Leute machen mit. Alle meinen bisherigen Beiträge unter diesem Tag. Auch dabei sind Gertrud Trenkelbach, Marinsche, Multicolorina, solera1847 und Wili.
Roe Rainrunner hat mich mit dem Liebsten bedacht. Und es gibt Menschen, die lesen gern die Antworten auf den Liebsten. Und es gibt Menschen, die schreiben gern Antworten auf den Liebsten. So kommt alles zusammen: Ein Liebster-Award für einen Menschen, der gern darauf antwortet mit Leser*innen, die das lesen wollen müssen.
„Gegrillter Kohl mit Innereien (Liebster Award)“ weiterlesen
Wie gestern angekündigt, wollte ich ein paar Takte zu Köln sagen, der heiligen Stadt, der ich mich in einer gewissen Hassliebe verbunden fühle. Und zu den Geschehnissen in der Silvesternacht und ihre Folgen, die mich mit Unbehagen erfüllen.
Mein Beitrag zu Vertriebenen hat eine Resonanz hervorgerufen, mit der ich nicht gerechnet hätte, der aber seine Berechtigung hat, deshalb möchte ich im Folgenden die dort benannte Fremdheitserfahrung als maßgebliches Merkmal von Migranten jeder Art vertiefen und den Vorwurf der mangelnden Integrationswilligkeit auf ihre Ursachen zurückführen.
„Migration, Integration, Gentrifizierung und die Rolle des Staates“ weiterlesen
Seit einiger Zeit laufen in meinem Erleben zwei Phänomene ineinander, aber überraschend und erstaunlich. Da wären zum einen die vielen Menschen auf der Flucht, die nach Deutschland kommen und da wären die Ängste der Bevölkerung ob der Ankömmlinge.
Die einzige Schwemme, die ich sehe, ist die von Artikeln über Flüchtlinge, die uns angeblich zu überschwemmen drohen.
Ich schaue seit Wochen keine Tagesschau mehr, weil ich die Bilder nicht mehr ertrage und höre im Radio weg, wenn die Sprecherin die Zahl der Ertrunkenen im Mittelmeer in diesem furchtbar professionellen Tonfall sagt … „Und nun das Wetter“, das egal ob heiter oder wolkig stets in ersterem Tonfall daher kommt.
Ich bin Sprachkritiker, zumindest privat in Teilzeit. Seitdem die „Flüchtlingsschwemme“ über uns herein bricht, habe ich aber noch nicht einmal etwas zum Thema „Sprache und Seniorenzentrum“ geschrieben. Zwei oder drei Begriffe hätte ich noch. Warum eigentlich? Wahrscheinlich, weil die Schwemme an mir nagt. Was für ein entwürdigendes Bild ist das bitte? Da kommen sie in Scharen wie marodierende Freischärler oder es gibt einen Schwarm an Flüchtlingen wie Heuschrecken, die sich über Ägyptens Kornfelder hermachen, zuletzt die Schwemme, gegen die eine Schwemme der Elbe ein Kinkerlitzchen zu sein scheint. GEHT’S EIGENTLICH NOCH?
Nach diesem Gefühlsausbruch zurück zur Ratio. Egal, wie man zu Flüchtlingen steht, wisst ihr eigentlich, was ihr schon mit den Worten anrichtet, liebe Leute, die sie verwenden? Ihr sprecht diesen Leuten die Menschlichkeit ab, ihr erklärt sie zu einer Naturkatastrophe. Leute, die ihr Leben riskieren, die für gewöhnlich nichts mehr haben als das, was sie bei sich tragen können und eben ihr Menschsein, denen nehmt ihr mit solchen Begriffen das, was sie unnehmbar haben (nicht besitzen) sollten: Würde.
Egal, ob „das Boot voll“ ist oder ob sie alle zu uns kommen sollen, wir reden hier über Menschen. Also behandelt sie wie Menschen. Noch nicht einmal wie Vieh behandelt ihr die Flüchtlinge, wenn ihr euch euch in eure Beschreibungen flüchtet und wenn ihr von einer Katastrophe sprecht, beschleicht mich das Gefühl, ihr erklärt es zu einem metaphysischen Problem, als ob der liebe Gott oder der Weltgeist oder das Schicksal die Hand im Spiel gehabt hätten.
Und zuletzt: Flüchtlinge. Als ob es eine Spezies wäre. Flüchtlinge, das ist wie Bückling oder Schönling. Wenn ich mich recht entsinne, hat das -ling im Deutschen den Status eines Pejorativ-Suffix. Das Schlimme ist, es geht mir auch erst in diesem Artikel auf. Also Schluss damit. Das sind Flüchtende oder Menschen auf der Flucht. Bringt ihnen, wenn ihr schon sonst nichts geben wollt, wenigstens die Achtung entgegen, die sie als Menschen verdient haben.
Die Gründe für Flucht mögen so vielfältig sein wie die Zahl der Flüchtenden. Doch jeder Mensch auf der Flucht ist zunächst Mensch und verdient es, so behandelt zu werden. Und für jede Flucht gibt es einen Anlass. Hinter jedem Anlass steht ein Problem. Und jedes dieser Probleme, sei es individuell oder strukturell, ist kein Grund, sich mit irgend etwas, Mentalität, Gott, Schicksal, herauszureden. Auch wenn wir es nicht verstehen und deshalb nicht unbedingt beeinflussen können, es ist dennoch menschen-gemacht.
Und damit beginnt unsere Verantwortung. Auch wenn wir Flüchtende nicht aufnehmen wollen, haben wir als Menschen – ja wir sind genau wie die Flüchtenden – Verantwortung. Verantwortung uns zu fragen, welchen Beitrag wir leisten können. Das beginnt damit, dass wir versuchen müssen, die Gründe für die Flucht zu verstehen und uns dann zu fragen, was wir zur Behebung der Gründe tun können. Weil es ebenso Menschen sind wie wir selbst.
Jede Debatte über Flucht und Flüchtende kann geführt werden, aber das ist der unhintergehbare Kern jeder Debatte, die wir führen könnten. Ich könnte auf andere Blogs verweisen, die berechtigte Fragen stellen wie diese: Was, glaubt ihr wohl, bringt einen Menschen dazu, in einem völlig überfüllten Boot übers Mittelmeer zu schippern? Wirtschaftliche Not? Die Versprechungen der Schlepper? Ihr nickt? Gemach …
Wirtschaftliche Not gibt es in jeder kapitalistischen Gesellschaft auch. Nehmen wir Griechenland. Das vielgescholtene Land kennt außer der vielgescholtenen Rente kein ausgeprägtes soziales Sicherungssystem wie in Deutschland. Der Arbeitsplatzverlust führt zu großen ökonomischen Einbußen, der durchaus existenzbedrohend sein können. Einige entscheiden sich zu gehen und ihr Glück anderswo zu versuchen, aber viele bleiben. Eine Griechenschwemme erleben wir nicht. So viel zur „wirtschaftlichen Not“. Damit diese zum Fluchtgrund wird, muss sie zur existentiellen Not ohne Perspektive mit beinahe übermenschlichem Leidensdruck werden. Einmal durch die halbe Wüste, weil ich kein Geld in der Tasche habe ist ein Abenteuer, auf das ich mich nicht einlassen würde.
Blieben die Versprechungen der Schlepper. Wo wir mit der Ausgangssituation des handelsüblichen „Wirtschaftsflüchtlings“ (ja, ich benutze das Wort hier mit Absicht) ein wenig zurecht gerückt haben, sollte klar sein, dass die Versprechungen der Schlepper sicher nicht der Grund sind. Ich wage zu behaupten, dass die meisten Menschen auf der Flucht nur daran glauben, weil ihnen gar nichts anderes übrig bleibt, trotz des Blicks auf das alte, vielleicht etwas morsche Boot, das schon viel zu voll geladen ist. Das bloße Wort, ein „Wir kommen sicher übers Meer und drüben wartet das Paradies“ klingt unrealistisch. Aber woran soll ein solcher Mensch, der auf der Flucht ist, denn sonst noch glauben? Er hat nichts weiter als das Versprechen, ist gezwungen zu glauben und steigt ins Boot.
Und jetzt bitte die Diskussion noch einmal von vorn.