„Wir werden alle sterben!“ Und zwar jetzt, sofort und sogleich. Nein, das ist nicht ganz richtig. Aber innerhalb des nächsten Monats werden wir entweder jämmerlich verhungern oder aufgefressen werden, sprach die Mitbewohnerin.

Ich schaute sie mit großen Augen an. Als sensationslüsternes Clickbaiting-Opfer erkundigte ich mich natürlich zunächst nach der Sache mit dem Auffressen. Nun, erklärte sie mir, wenn wir für Moritz kein Katzenfutter mehr hätten, müsse der Kater sich früher oder später überlegen, wie er überleben wolle. Als Raubtier – hier musste ich einen Lachanfall unterdrücken – würden wir damit zur Beute und früher oder später aufgefressen werden. Meinen Einwand, dass dieser Kater nicht einmal in der Lage sei, anständig auszubrechen und im Treppenhaus immer nach oben laufe, überging sie.

Dennoch war meine Neugierde geweckt. Gab es etwa in Deutschland eine drohende Tierfutterknappheit – Deutschland, das Land der Mopsmäntel und Yorkshire-Terrier-Tragetaschen? Das entzog sich meiner Vorstellungskraft. Ich erwiderte, dass heute Freitag sei und sie morgen noch neues Futter kaufen könne. Einen Abend mit einer gut gefüllten Schale Trockenfutter würde die Boshaftigkeit auf vier Pfoten bestimmt überleben.

Ob so viel Naivität meinerseits schüttelte die Mitbewohnerin nur den Kopf. „Ach, Zeilenende“ hob sie an, „wenn es denn so einfach wäre.“ Dann klagte sie mir in zunehmend hysterischem Tonfall ihr Leid.

Der Supermarkt bei uns ums Eck wird derzeit modernisiert. Ich ging bislang davon aus, dass dies weiterhin im laufenden Betrieb geschehen würde, doch in diesem Fall irrte ich, denn ein gut und weithin sichtbares Schild – in der hintersten Ecke und halb verdeckt durch eine Bauplane – kündete von einer baldigen Schließungszeit über einen gesamten Monat. Die Regale seien geplündert, es gebe keinen Käse mehr und sie war gezwungen, irgendwas zu kaufen, damit sie nicht sofort verhungere.

Nach einem Blick in ihr Kühlschrankfach stellte sich mir und ich ihr allerdings die Frage, wieso sie ausgerechnet fertige, eingeschweißte Bratkartoffeln aus dem Kühlregal kaufen musste. In meinen zwei Jahren hatte ich sie noch nie Bratkartoffeln essen sehen, weder abgepackt noch frisch. Sie erwiderte nur, diese Bratkartoffeln seien bis zur Wiedereröffnung des Supermarkts haltbar. Was wir nun tun sollten, fragte sie kläglich.

Ich überlegte einen Augenblick. Die naheliegendste Lösung fiel aus, denn der zweite Supermarkt sei zu teuer und immer zu, zwischen 8 Uhr und 18:30 Uhr käme sie nicht zum Einkaufen. Das hatte sie in ihrer Erklärung bereits eingebunden. Ich legte kurz die Stirn in Falten, bis mir einfiel, dass diese Falten potentiell bleiben und glättete die Stirn wieder, während ich nachdachte. Dann begann ich eine kurze Recherche im Internet.

supermarkt

Verschiedenen Seiten zum Thema zufolge kann ein Mensch mindestens 14 Tage ohne Nahrung auskommen. Wenn er regelmäßig mit Frischwasser versorgt wird, das ihm Mineralstoffe und ein paar Vitamine liefert, sogar noch länger. Ich überprüfte unsere Wasserhähne, aus denen zweifelsfrei Wasser kam. Dann musterte ich die Mitbewohnerin und mich. Denn die weitere Überlebensdauer hing davon ab, wie groß die Reserven seien, die ein Mensch mitbrachte und verkündete schließlich erleichtert: „Die können sogar noch ein halbes Jahr beim Renovieren dranhängen, wir werden nicht verhungern. Aber Moritz schon. Den schmeißen wir am Besten sofort vom Balkon.“ Ich hatte ihn schon gepackt, um zur Tat zu schreiten, doch die Mitbewohnerin hinderte mich daran. Ob es denn keine Alternative gäbe?

Ich zuckte mit den Achseln und erklärte ihr die Situation: Sie habe ja keine Erfahrung darin, Supermärkte zu Fuß oder mit Öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen und die Einkäufe auf diesem Weg heim zu transportieren. Das zu lernen dauere aber seine Zeit, da bestehe leider keine Hoffnung für sie, ebenso wenig wie ich die hohe Kunst des Katzenfutterkaufs in so kurzer Zeit meistern könne. Da sie seit vielen Jahren mit dem Auto zur Arbeit fahre, um auf dem Heimweg noch einmal kurz auf dem Supermarktplatz zu halten, wüsste sie wahrscheinlich auch, dass zwischen ihrer Arbeitsstelle und unserer Wohnung nicht mindestens drei Supermärkte lägen, von denen ich schon wüsste. Auch der Supermarkt einen halben Kilometer oben auf dem Berg und der weitere Supermarkt oben auf dem Berg in etwa 750m Entfernung seien wohl derzeit geschlossen oder mit dem Auto nicht zu erreichen.

Sie belehrte mich eines Besseren. Dort sei das Parken entweder blöd oder sie verlaufe sich in besagten Supermärkten immer und fände nichts. Ich gab zu bedenken, dass ihr das auch in unserem umgebauten Stamm-Supermarkt passieren würde, sobald er die Pforten wieder öffnet. Für sie bestehe noch Hoffnung, sich dem neuen Supermarkt zu stellen und einen Weg hindurch zu finden, bevor sie verhungert sei. Bis dahin sei Einkaufen aber einfach keine Option für sie. Ich hingegen käme infolge eines neuen Arbeitsweges ohnehin an neuen Supermärkten vorbei, an denen ich mich eindecken könnte.

Für Moritz hingegen, das schwarzfellige Grauen, sah ich keine Hoffnung. Doch bevor ich einen weiteren Versuch unternehmen konnte, seiner hoffnungslosen Lage ein Ende zu bereiten, nahm die Mitbewohnerin das „Babylein“ und schleppte es in ihr Zimmer

Wahrscheinlich um ihn persönlich zu erlösen.

8 Kommentare zu „Über die Unmöglichkeit des Überlebens in der Zivilisation

  1. Lieber Zeilenende, hier offenbarst du in deiner unnacharmlichen Art, wie Zivilisationsmüde unsere Gesellschaft ist 😀 Mich hingegen freut dies, denn ich bin jederzeit bereit nach einem Armageddon (nein, ich meine nicht die Schließung eines Supermarktes) alles zu tun, um die Meinen und mich am Leben zu halten 😉 Zur Not würde ich sogar zu Fuß zum Einkaufen gehen 😉 Danke für die Erheiterung und Mäuse gibt es bei euch wohl eher nicht 🙂

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  2. Einen Monat? Erzähl ihr mal, dass unser nächstgelegenster Supermarkt (250m) komplett abgerissen wurde, weil er einem Neubau weichen musste. Es dauerte fast drei Jahre (!) bis zur Wiedereröffnung. Und zu allem Überfluss haben sie beim Buddeln auch noch eine russische Bombe gefunden, die zu einer eintägigen Gesamt-Evakuierung führte. Püh 😀

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  3. Hach…. das war köstlich. Unser alter Mac mochte eh nichts futtern während der heißen Tage und nährt sich jetzt ganz gut von Stubenfliegen, verirrten Wespen. Nur die Fledermäuse, die uns derzeit allabendlich besuchen, kriegt er nicht 😅

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  4. Wie gut, dass wir für einen solchen Notfall unseren Kater Keks haben. Als nahezu perfekter Jäger würde er nicht nur seine beiden pelzigen Mitbewohnerinnen mit ernähren, sondern auch für uns sorgen können. Ich weiß nur noch nicht, ob ich mich über längere Zeit an Mausgeschmack gewöhnen könnte 😉

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