Sieben Bücher will ich 2017 lesen. Eines habe ich schon geschafft. Okay, es ist ein dünnes Buch und ich habe mich darauf gefreut, es zu lesen. Ich hatte schon im letzten Jahr beschlossen, es lesen zu wollen. Aber dennoch darf ich mich darüber ja wohl freuen. Denn überzogene Erwartungen können auch guten Büchern schaden.

Inhalt lt. Verlagsseite

Die Geschichten in Matthias Brandts erstem Buch sind literarische Reisen in einen Kosmos, den jeder kennt, der aber hier mit einem ganz besonderen Blick untersucht wird: der Kosmos der eigenen Kindheit. In diesem Fall einer Kindheit in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts in einer kleinen Stadt am Rhein, die damals Bundeshauptstadt war. Einer Kindheit, die bevölkert ist von einem manchmal bissigen Hund namens Gabor, von Herrn Vianden, mysteriösen Postboten, verschreckten Nonnen, kriegsbeschädigten Religionslehrern, einem netten Herrn Lübke von nebenan, bei dem es Kakao gibt und dem langsam die Worte ausgehen. Es gibt einen kauzigen Arbeitskollegen des Vaters, Herrn Wehner, einen Hausmeister und sogar einen Chauffeur, da der Vater gerade Bundeskanzler ist. Erzählt wird von komplizierten Fahrradausflügen, schwer bewachten Jahrmarktsbesuchen, monströsen Fußballniederlagen, skurrilen Arztbesuchen und von explodierenden und ebenso schnell wieder verlöschenden Leidenschaften wie z.B. dem Briefmarkensammeln. Nicht zuletzt lesen wir von gleichermaßen geheimnisumwobenen wie geliebten Eltern und einer Kindheit, zu der neben dem Abenteuer und der Hochstapelei auch Phantasie, Gefahr und Einsamkeit gehören. Ein Buch, das man nicht vergessen wird.

 

Licht

Fangen wir mit dem Guten an. Matthias Brandt ist ein sprachlich durchaus versierter Erzähler. Es macht ihm Spaß zuzuhören. Zuhören ist in diesem Fall tatsächlich das passende Wort. Brandt schreibt nicht, Brandt erzählt. Statt den Wörtern mit den Augen zu folgen, erklingen sie in den Ohren.

Es gibt eine Handvoll Bücher, die das Kunststück fertig bringen. Es geschieht dann aber automatisch und ist recht angenehm. Für mich ist das je nach Buch eine sehr angenehme Sache. In diesem Fall störte es mich nach einiger Zeit …

 

Schatten

… was an der Konstruktion des Buchs liegt. Matthias Brandt wählt den Ich-Erzähler für sein literarisches Vergnügen. Es handelt sich bei „Raumpatrouille“ nämlich nicht um eine Biographie und auch nicht wirklich um Memoiren. Ihm geht es auf den ersten Blick nicht darum, von seiner Zeit als Kanzlersohn in Bonn zu erzählen, sondern um … Nunja … Das ist eine gute Frage. Über weite Strecken des Buches war ich mir nicht sicher, was Brandt mit der Raumpatrouille erzählen wollte. Da werden Anekdoten vom Besuch der Lübkes oder Herbert Wehners mit alltäglichen Kindheitserfahrungen gemischt, da herrscht ein Stimmungsspektrum zwischen Euphorie, Betrübnis, Stress und Wahnsinn (der kleine Ich-Erzähler ist definitiv ein Irrer!), ohne dass sich ein innerer Zusammenhang herstellen lässt. Schlimmer noch: Der Ich-Erzähler nervt zwischenzeitlich, was an einem grundlegenden Problem liegt:

Der Junge in der Geschichte gibt sich als Traumtänzer. Wie Kinder halt so sind. Das sprachliche Niveau des Erzählers ist hoch. Sehr hoch. Ich sage nur „enzymatisch“. Das Reflexion-Niveau des Kindes ist noch höher, um im nächsten Moment völlig zu kippen, weil er eine Zaubershow plant … Mehr will ich nicht verraten. Das sorgt für eine ständige Dissonanz, weil Brandt nicht so schreibt, als erinnere sich der Ich-Erzähler an seine Kindheit. Er schreibt auch nicht so, als erzähle er aus der Sicht des Kindes. Er schreibt. Und er wählt „Ich“ als Erzähler (der zufällig seinen Namen trägt), macht daraus aber einen Erwachsenen, der auf seine Kindheit zurückblickt.

Das Problem ist die Mischung: Für eine Erinnerung an Früher, was die Vergangenheitsform bedeuten kann, sind die Erinnerungen zu detailliert, das Geschilderte zu lebhaft. Man ist in den Situationen mit ihren Details und spontanen Gedanken des Erzählers drin. Also ist der Anspruch des Erzählers, das Geschehen zu erzählen. Das Präteritum ist hier also nur Konvention als Erzählsprache. Und dafür ist die Sprach- und Gedankenwelt des Erzählers zu unglaubwürdig. Es erzeugt eine permanente Dissonanz im Kopf, die im letzten Drittel zu stören beginnt.

 

Licht

Andererseits haben gerade die letzten Geschichten ihren ganz besonderen Reiz, denn der Ich-Erzähler verlässt in dieser Geschichte seine Blase und wendet sich mit großer Lust dem bundesrepublikanischen „Normal-Alltag“ zu. Dieser ist viel lebendiger als der abgeschlossene Alltag des Ich-Erzählers, wenn man so will, ist es der Ausbruch aus der Filterblase, der den Ich-Erzähler beinahe zu überwältigen droht. Die Schilderung der Normalität steigert die Dissonanz noch einmal, weil der Ich-Erzähler hier mit leuchtenden Farben ein Bild malt, um es metaphorisch auszudrücken. Die Dissonanz steigert sich und wird am Schluss zumindest für mich dann doch überraschend aufgelöst.

 

Fazit

Matthias Brandt gelingt mit Raumpatrouille ein schöner kleiner Erzählband. Er hat so seine Schwächen, die sich am Ende als bewusst gesetzte Ärgernisse für den Leser setzen, wie ich finde. Was bei einem schmalen Büchlein ein guter Trick ist. Das liest man nämlich zu Ende.

Was Raumpatrouille so reizvoll macht ist das Spiel, das Matthias Brandt und sein Ich-Erzähler mit dem Leser treiben. Da gibt es eine Wirklichkeit und Andeutungen der Wirklichkeit, da begegnen wir der Familie Brandt nur in Andeutungen, an der Peripherie des kindlichen Kosmos. Ständig stellt sich die Frage, was gerade geschieht, was die Erwachsenen im Roman „verbergen“ und welche der Verhaltensweisen authentisch sind, welche Begebenheiten so stattgefunden haben und was davon Fiktion ist. Denn dass „Raumpatrouille“ irgendwo zwischen Fiktion und Realität spielt, macht schon das unschuldige kleine „Geschichten“ auf dem Schutzumschlag deutlich. Die Idee funktioniert erstaunlich gut, aber Brandt hat es in der Hinsicht auch leicht. Jedermann weiß, wer die Vorlage für den Vater des Ich-Erzählers ist.

7 Kommentare zu „Besprechung: Raumpatrouille (keine Science Fiction!)

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