Aus gegebenem Anlass: Tugend im Angesicht des Terror

Nun ist es möglicherweise so, dass Deutschland Opfer des Terror geworden ist. Ein Ausspruch, der auf zweierlei Weise merkwürdig ist.

Nur weil ein Begriff ständig für etwas gebraucht wird, heißt das nicht, dass dieser Gebrauch sinnvoll ist. Im Gegenteil ist ein Problem des Sprechens der, Wörter aus ihrem Kontext zu reißen und sie gewaltsam in neue Kontexte zu prügeln. Oder vorsichtiger formuliert: Es ist immer ein bedenklicher Vorgang, wenn Wörter nicht metaphorisch, sondern konkret übertragen werden.

Vorbemerkung: Wenn ich im folgenden Text von „konventionell“ spreche, meine ich damit den strikten Wortsinn: Sich entsprechend einer gewissen (gesellschaftlichen) Übereinkunft nach verhaltend.

Ich möchte mich nicht übermäßig mit sprachlichen Feinheiten aufhalten, dennoch auf die erste Kuriosität des „Deutschland als Opfer des Terror“ eingehen. Denn der Terror ist seit der frühen Neuzeit ein Vorrecht des Staates, seine Bürger mit Gewalt zum Gehorsam zu zwingen. Klassischerweise ist das die Bestrafung. Der Staat zwingt seine Bürger durch Androhung von Gewalt bei Missachtung zur Einhaltung von Gesetzen. Es ist also der Staat, der den Terror ausübt. Staaten untereinander können sich nicht terrorisieren, die können sich nur bekriegen. Und einzelne Menschen können sich kriminell und menschenverachtend verhalten, aber nicht terroristisch. Man adelt den Kriminellen, indem man ihm ein eigenes Etikett anklebt: Terrorist.

Die zweite Kuriosität ist, dass die terroristische Tat nur die Spitze des Eisbergs ist, um ein Bild zu verwenden. Der Staat zwingt seine Bürger unter das Gesetz, im Idealfall muss er dafür gar keine Gewalt anwenden, weil der Terror wirkt und die Bürger sich an das Gesetz halten. Nicht, weil sie konkrete Gewaltanwendungen vor Augen haben, sondern weil der Terror wirkt. Terror ist die Erziehung zu konventionellem Verhalten. Deshalb konnte Robespierre seine Herrschaft noch durch die beiden Worte „Tugend und Terror“ charakterisieren: Terror, um die Menschen tugendhafter zu machen.

Das ist das Moment, was die Kriminellen mit dem Terror gemein haben: Sie folgen einer Ideologie. Es geht ihnen nicht darum, Menschen zu töten. Die Menschen als Menschen sind ihnen egal. Es geht um das Symbol, das sie ausstrahlen wollen. Aber wenn wir zugeben, dass es Terror ist, haben wir den Kriminellen schon Konzessionen gemacht:

  1. Wir gestehen ihnen ein, dass sie es schaffen können, uns zu konventionellem Verhalten in ihrem Sinne zu zwingen.
  2. Wir lassen es zu, dass die Toten keine Opfer mehr sind, sondern lediglich Mittel zum Zweck, uns unter die Konvention zu zwingen.

Es sind Menschen gestorben. Das ist nicht nur deshalb ungerecht, weil es kurz vor Weihnachten und an einem Ort der Freude geschehen ist. Das ist prinzipiell ungerecht, aber zunächst eine kriminelle Tat. Und es liegt an jedem von uns, dafür zu sorgen, dass es nicht mehr wird als die kriminelle Tat. Damit die Opfer von Berlin Opfer bleiben und nicht wir die Opfer werden.

Die Sache ist altbekannt: Wer wegen der Terroristen sein Verhalten ändert, lässt sie siegen. Es beginnt schon damit, dass wir sie Terroristen nennen. Das ist der erste schwere Fehler. Der zweite ist, uns so zu verhalten, wie sie es wollen, weil wir irgendwann die Konvention übernehmen – und keine Weihnachtsmärkte mehr besuchen, nicht mehr das große Feuerwerk zum Feiertag sehen wollen, auf keinen Konzerten mehr feiern, nicht mehr im Schwulenclub tanzen gehen. Damit opfern wir unsere Tugend der Tugend der Täter.

Weihnachtsmärkte, Feuerwerke, Konzerte, Schwulenclubs leben alle davon, dass wir sie besuchen. Wenn wir das nicht mehr tun, sind sie irgendwann nicht mehr da. Es verschwindet eine Wahlmöglichkeit sich zu entscheiden. Das geschieht immer im Leben, aber es sollte geschehen, weil wir uns so entscheiden und nicht, weil wir uns vor Furcht nicht mehr trauen.

Und jetzt bitte: „Weitertanzen.“

39 Kommentare zu „Aus gegebenem Anlass: Tugend im Angesicht des Terror

  1. Dein Kommentar gefällt mir, denn es ist dir gelungen, trotz aller Trauer klar zu machen, dass wir uns nicht unterkriegen lassen dürfen. Solange uns das gelingt, kann die andere Seite nicht gewinnen.
    Liebe Grüße, Achim

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  2. Ich neige dazu dir Recht zu geben, denn bereits im Gesetzbuch steht, dass der Staat das Gewaltmonopol hat. Ivh fürchte nur, dass die Attentäter keine Feinheiten abwägen bevor sie indoktriniert ihre Ziele verfolgen. Für die Öffentlichkeit wird ja gerne die große Wortkeule geschwungen, denn dann erreicht er die meisten Bürger emotional, so wie bei einem Super-GAU, den es natürlich nicht gibt. Ich habe deine Gedanken gerne gelesen.

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    1. Ehrlich gesagt, ist mir ziemlich egal, was irgendwelche Attentäter glauben, was sie seien. Kriminell sind sie trotzdem, weil sie selbst als Partisanen nichts taugen. Dass die Bevölkerung es emotionalisiert braucht, da pflichte ich dir aber bei. Aber „kriminell“ finde ich auch schon emotionall.

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  3. Mir gefällt dein Text gut, vor allem die Moral, die du aus deiner Überlegung ziehst.
    Im Terrorismus gilt es, bestehende Systeme zu destabilisieren. Und das passiert über Angst und Wahllosigkeit bei den zumeist zivilen Opfern. (Man spricht nach Münkler von alten und neuen Kriegen, darunter fällt auch Terror).
    Wenn ich also als Lehrerin mittlerweile aus schulpolitischen Gründen genötigt bin, in Klassenräumen zu unterrichten, die sich nicht von außen öffnen lassen (Fluchttüren), dann sehe ich das als Niederlage. Da bin ich absolut bei dir. Wenn ich einer neuen 5. Klasse (die sind so wahnsinnig klein noch) erklären muss, dass es sowas wie Amokläufe gibt (auch eine Form des Terrors). Das jemand sie erschießen wollen könnte (welch surreales Bild zwischen Brotdosen und Stiftemäppchen).

    Erst, wenn das Volk genug Angst hat, gewinnt der Terrorist (und ja, ich finde, man darf es ruhig benennen. Die Definition ist klar und man sollte auch klare Begriffe verwenden).
    Wenn ich Angst vor etwas habe und es nicht mehr benennen darf, nun, dann sind wir bei Lord Voldemort. Und der hat auch Terror und Angst gesät in einer Gesellschaft. Ob nun Todesser oder Terroristen. Angst ist Angst und führt zu Misstrauen. Misstrauen führt zu Unsicherheit. Unsicherheit zu Destabilisierung.
    In diesem Sinne: Ja, weitertanzen!

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    1. Ich sehe keinen Gewinn darin, den Terroristen Terrorist zu nennen, wenn er kriminell ist und ihn die Auszeichnung nur aufwertet. Als Terroristen billigen wir ihm (wenn auch nur verbal) eine Gewalt zu, die er nicht haben sollte, nämlich eine politische. Der Kern ihres Tuns ist kriminell. Und ob sie nun irre sind oder das aus einem Glauben tun … Völlig gleichgültig. Die Tat zählt in diesem Fall. Denn ihm zu sagen, dass er nicht mehr ist als das, ist in meinen Augen ein Akt der Selbstermächtigung gegenüber dem Kriminellen.

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  4. Allein die Tatsache, dass jetzt alle drüber reden und auch jeder zweite Blog-Artikel davon handelt, heißt doch schon, dass sie gewonnen haben: Den Tätern wird durch Thematisierung des Anschlags, IHRES Anschlags, Raum gegeben. Das sollte man komplett lassen. Einfach schweigen. Dann haben auch die Rechtspopulisten nichts mehr zum aufregen.

    Ich habe heute morgen schon woanders geschrieben:
    In Berlin sind in diesem Jahr 16 Radfahrer getötet worden. Ironischerweise viele davon durch LKWs totgefahren.
    Wenn ich dann zum Weihnachtsmarkt-Anschlag höre „Da müssen mal weniger Flüchtlinge!“, „Da müssen mal mehr Polizisten!“ oder „Da muss die Politik was tun!“, frage ich mich, was z.B. mit den Radfahrern ist. Da müssen mal weniger Autos? Da müssen mal mehr Radwege? Da muss die Politik mal was tun? Stört doch keinen. Die Hauptstädter steigen trotzdem auf ihr Rad…
    Wieso also jetzt hier?
    Tatsache ist, wer in der Großstadt keine Angst vor dem Verkehr (Unfälle), den öffentlichen Verkehrsmitteln (entgleisen/zusammenstoßen) und dem Feinstaub (Lungenerkrankungen) hat, wer sich ungesund ernährt, nicht genügend bewegt, raucht oder Alkohol konsumiert, braucht auch keine Angst vor „Massenveranstaltungen“ zu haben…

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    1. Ich habe mich heute beim Gang über den Weihnachtsmarkt durch die MPs auch eher verun- als gesichert gefühlt. Aber ich bin ja ein Linker, mich verunsichern schon Bankerkongresse, weil die alle den gleichen Anzug tragen. *g*
      Ich habe eine Weile darüber nachgedacht, ob ich zu Berlin schreiben soll. Ich habe zu einigen anderen Ereignissen auch nichts geschrieben. Es war mir aber ein Bedürfnis, das Thema mal wieder grundsätzlich zu erörtern, in einem eigenen Beitrag. Aber die Täter haben nicht gewonnen: Sie zielen auf die Abschaffung unserer Wertordnung. Und Teil dieser Ordnung ist der diskursive Raum, in dem Angriffe gegen die Ordnung wieder selbst innerhalb des Diskurses verhandelt und reflektiert werden. Gerade die Tatsache, dass wir den Destruktionsversuch zum Teil des Systems machen können, ist unsere Stärke. Deshalb sollten wir über diese Menschen und ihre Taten reden. Mit ihnen reden. Im Rahmen unserer Diskurse. Politisch, gesellschaftlich, juristisch.

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      1. Ich frag mich halt immer, was es da zu reden gibt. Jeder normale, vernünftige Mensch findet solche Taten abscheulich. Da ist man sich doch eh schon einig. Die, die tatsächlich anderer Meinung sind, würde man sicherlich nicht umstimmen können 😀

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        1. Es geht nicht um die moralische Beurteilung der Tat, sondern um die juristische und politische. Heute morgen in der Presseschau war schon von massivem Polizeiversagen die Rede, da schlackern mir die Ohren. Das heißt nämlich dann, es soll mehr Überwachung geben. DAS ist der Diskurs, den wir führen.

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        1. Ich gehöre tatsächlich zu diesen alten Herzliberalen, für die erhöhte sichtbare Polizeipräsenz der Versuch ist, den Konformitätsdruck zu erhöhen. Also ja, ich fühle mich überwacht.

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        1. Die Frage ist, ob es bei der Sache um mich gehen sollte. Aber ich bin davon überzeugt, dass es so etwas wie 100%ige Sicherheit nicht gibt. Mit mehr Polizeipräsenz hätte sich der Anschlag nicht verhindern lassen. Es ist deshalb Unsinn. Von daher: Erstmal weniger Unsinn und es nach kritischer Analyse ggf. hinnehmen, dass sich gewisse Dinge nicht verhindern lassen.

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      2. An vielen Weihnachtsmärkten in Berlin werden jetzt Poller montiert, die derartige Anschläge verhindern sollen. Könnte man übertrieben nennen, nachdem es mit Nizza und Berlin aber schon zweimal passierte, ist Vorsicht wohl besser als Nachsicht.
        Des Weiteren könnte mehr Polizeipräsenz einerseits für ein höheres Sicherheitsgefühl (denn was sonst ist „Angst“ als ein Gefühl) sorgen, andererseits könnte man einen Angreifer theoretisch auch schneller erschießen, sodass er zumindest schnell gestoppt wird.

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        1. Die Poller sind auch mal zur Abwechslung kein Unsinn. Wobei ich bezweifle, dass sich Attentäter so leicht erschießen lassen. Dafür muss man sie im Vorhinein erkennen (sonst muss mit der MP in eine Menschenmenge geschossen werden) und sie müssen ungeschützt sein. Und es muss sie stoppen. Im LKW: Geschützt. Und das Risiko, dass das Ding einfach trotzdem weiterfährt. Ach nein, bei den Polizisten geht es drum, Staatsgewalt zu demonstrieren. Letztlich eine Trotzreaktion, weil das staatliche Gewaltmonopol verletzt wurde.

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      3. Das ist deine Sichtweise. Ich bin der Meinung, dass Polizisten ein gewisses Sicherheitsgefühl herstellen können.
        Oder anders gesagt: Wenn sie nicht da sind, werden Attentate nicht verhindert. Wenn sie da sind, schlimmstenfalls auch nicht. Aber ihre Präsenz schadet ja auch nicht…

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      4. Ich zahle Steuern an diesen Staat und erwarte, dass er das Attribut „Rechtsstaat“ dann auch korrekt umsetzt. Mein Geld dann nicht in Polizei-Aufgebot zu stecken, fände ich komisch (was tun die denn sonst damit?? :-D)
        Gestern erst wieder vor einem Polizisten mit MG gestanden. Und weißte was? Der war voll nett. Denn er ist auch ein Mensch, Vater, Sohn, Bruder, Onkel.

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        1. Natürlich ist er das. Ich habe auch gar nichts gegen Polizisten. Ich bin kein Autonomer. 😉 Aber zuallererst ist er, wenn er in Dienst ist, ein Symbol des Staates. Und dafür wird er bezahlt. Was Staatsausgaben angeht, fallen mir übrigens spontan Krankenhäuser, Schulen, Forschungseinrichtungen, Sozialeinrichtungen die Lebensmittelaufsicht und der ÖPNV ein. Die Polizei gehört auch dazu, aber Sicherheit kann der Staat wie gesagt ohnehin nicht garantieren. Also sollte er sich darauf beschränken, Risiken sinnvoll zu minimieren. Und der Sinn von MPs in Innenstädten ist mir bislang verschlossen geblieben.

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  5. Starker Beitrag, wie gewohnt. Du triffst den Nagel auf den Kopf mit deinen Zeilen. Mal keine Aufführung politischer Desaster zu lesen ist genau das, was uns gut gefiel beim Lesen. Wir wissen wohl alle, warum diese Dinge passieren in unserem Land und wie diese Kriminellen es geschafft haben, bei uns ihre Zelte aufzuschlagen. Und dieses permanente öffentliche Beschwichtigen erträgt zumindest von uns auch keiner mehr. Von daher schließen wir uns deinen Auasagen an und tanzen weiter…LG Ela und Alexa☕

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  6. Ein hervorragender Beitrag dazu! Ich wünsche mir wirklich, dass sich diese Einstellung auch in der „Masse“ verbreitet, ansonsten… ach nee, nicht jetzt. Jetzt wird getanzt 🙂

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