Als ich heute morgen die Tür zur Dachterrasse öffnete, war die Welt in Weiß getunkt. Kein gutes Zeichen, wie ich finde. Weiß ist ja mitnichten die Farbe der Unschuld. Das impliziert falsche Gedankengänge, zum Beispiel, dass es so etwas gäbe wie Unschuld. Aber wo auch immer wir hinschauen, wir werden sie nie sehen.

Bevor alle Juristen kollektiv aufheulen, sei zugebilligt, dass es „unschuldig“ durchaus gibt, aber immer in Bezug auf etwas. Ein Mensch, der vor Gericht freigesprochen wird, ist unschuldig in Bezug auf den Vorwurf, der ihm gemacht wurde. Wenn ich einen Steuerhinterzieher wegen Mordes anklage und feststelle, dass er gar niemanden getötet hat, dann ist der Steuerhinterzieher unschuldig in Bezug auf die Mordanklage. Aber nicht unschuldig per se.

Es ließe sich die Frage stellen, ob damit nicht alle Menschen unschuldig seien, bis sie vor einem Gericht verurteilt werden. Natürlich kann man das so sagen. Die Frage ist, ob wir das wollen. Wir definieren Menschen damit über rein juristische Kategorien, unser Menschenbild wird zu einem großen Prozess. Und wem das kein Unbehagen bereitet, dem empfehle ich zu diesem Thema Franz Kafka zu lesen. Ich für meinen Teil würde es vorziehen, mich nicht ständig mit dem Gefühl der Anklage konfrontiert zu sehen. Denn das ist die Konsequenz aus der ständigen Frage, ob man schuldig oder unschuldig sei.

Weiß ist die Abwesenheit von Farben. Weiß ist damit höchstens die Farbe des Neuen, noch Unberührten, erfahrungslosen. Vielleicht sind Babys weiß, allerdings kommen die meisten Babys rot oder blau auf die Welt. Rot aus Empörung, dass sie auf die Welt kommen müssen, blau vor Erschöpfung, dass sich niemand für ihre Empörung interessiert. Sicher, dahinter steckt kein gehaltvoller Begriff von „Erfahrung“, aber ich mag mir Babys nicht als weiße, unschuldige, neue und erfahrungslose Dinger vorstellen. Dafür brauche ich nicht einmal eine Reinkarnationstheorie. Die Babys müssen ja irgendwo herkommen und es muss einen Anlass für das Geschrei im Kreißsaal geben.

Weiß ist der große Betrüger unter den Farben. Medizinische Geräte sind weiß, um Sterilität und Sauberkeit zu signalisieren, gleiches gilt für Hotelwäsche, Sanitäreinrichtungen und Küchengeräte. Gekonnt verbergen sie es, dass dem nicht immer so ist. Um noch einmal auf die Babys zurückzukommen: Die Bekämpfung des Wochenbettfiebers verdankt die Menschheit dem Arzt Ignaz Semmelweis (und ich bin mir fast sicher, er hätte gern ein zweites S am Ende gehabt), allerdings nicht durch weiße Geräte, sondern durch ordentliche Hygiene. Und Hotelwäsche kann wie die sanitären Einrichtungen noch so sauber sein: Wenn die Silikonfuge einen krassen Hell-Dunkel-Kontrast bildet, ist es mit dem Sauberkeitsgefühl nicht mehr weit her. Selbst wenn ich den strahlend weißen Handmixer aus der Küche daneben stelle, hilft das nichts. Der ist ohnehin nur so lange strahlend weiß, bis man ihn zum ersten Mal benutzt.

Weiß scheint viel zu oft schuldig der Vorspiegelung falscher Tatsachen. Und ich habe noch nicht einmal angefangen, mir White Power und Ku Klux Klan, Roy Black und Doppel- oder Feinripp-Unterhosen von Schiesser vorzuknöpfen. Aber das hier ist ja kein Prozess. Also sprechen wir nicht von Schuld. Lassen wir Weiß sein Recht und geben uns der Illusion hin, dass die Welt, eingehüllt in weißen Frost, aussieht wie neu gemacht. Machen wir uns schuldig: Auch wenn da Blau unter dem Weiß schimmert, gehen wir zurück auf Start und beginnen nicht nur einen neuen Tag, sondern eine ganze neue Welt.

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28 Kommentare zu „Weiße Schuld

  1. Die Babys sind ja nur deshalb blau oder rot, weil das Fell fehlt. 😛
    Weiß auf den Dächern find ich prinzipiell ganz schön, weil es diese Endjahresstimmung auch optisch vermittelt. Wenngleich ich die damit einhergehende Kälte nicht immer mag. ^^‘

    Thema Schuld/Unschuld: Wenn du prinzipielle Unschuld verneinst, befindest du dich dann nicht im selben Boot wie die Theologen, die die Erbschuld propagieren? 😛
    Und dann noch Kafka, am frühen Sonntagmorgen? Mein lieber Zeilenende, da haust du so nonchalant ziemlich heftigen Tobak raus. 😉
    Ich fand den Prozess sehr erschöpfend… Da ging es mir wohl ähnlich wie K….

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    1. Vielleicht hätten sie aber blaues oder rotes Fell, man weiß ja nie. Weiß ruft in mir jedenfalls nur Endzeitstimmung hervor, da hat die Jahresendstimmung keine Chance. Was die Theologenfrage angeht: Nö. Ich verleugne den Dualismus aus Schuld-Unschuld vollkommen und behaupte, dass es ihn so gar nicht gibt, sondern nur in gewissen Kontexten. Die meiste Zeit des Lebens ist man keines von beiden. So wie K., der den ganzen Prozess über weder schuldig war, noch sich unschuldig fühlte. Aus der Nummer käme er ganz einfach raus, wenn er die Zuschreibung zurückgewiesen hätte. 🙂

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      1. Aber Jahresendstimmung ist doch Endzeitstimmung! 😮
        Das Ende des Jahres eben! 😛

        Hm, interessanter Ansatz. Muss ich mal überdenken.
        Was den K. betrifft, ich befürchte, Kafka hätte den so leicht nicht vom Haken kommen lassen. ^^ 🙂

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  2. Ich gebe mich von Zeit zu Zeit gern der Illusion hin, dass ‚‚White Christmas“ nicht als Hymne des KKK erfunden wurde, auch genieße ich im Winter gerne einmal den Raureif, den Frost und – natürlich – die weiße Schneepracht, wenn es damit dann auch bald wieder ein Ende hat. Und ich gebe meinem Vorkommentator Recht: Kafka am Sonntagmorgen ist harter Tobak.

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      1. Auch wieder wahr. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, als ich ‚‚Der Prozess“ gelesen habe. Die faszinierende Schilderung der völligen Verständnislosigkeit des Protagonisten und dann das knüppelharte Ende – starker Tobak.

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  3. Vielleicht schaust du in die falsche Richtung. Wenn du von dir ausgehst… dann mag es Unschuld nicht geben, das ist richtig.So wie es anscheinend in dir aussieht, ist es doc h egal wie etwas aussieht. Blau, Grün. Schwarz Weiß. Halte dich einfach an Definitionen von anderen fest., Aber deine eigene, wirst du so nicht finden. Luke

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    1. Definitionen gehören per definitionem niemanden allein. Definitionen braucht man nämlich nur, wenn man sich mit anderen austauschen möchte. Sprache insgesamt braucht es nur, wenn es auch jemanden gibt, mit dem man spricht. Von daher: Es benötigt immer eine Einigung darüber, was man mit „Unschuld“ bezeichnet, die kann nie allein rein subjektiv sein. Und dann wird es spannend: Je nachdem, wie du dich entscheidest, was ein Begriff meint, kann eine Definition regelrecht zur Waffe werden.

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  4. Roy BLACK macht sich in dieser Gesellschaft besonders gut. Da stellt sich ja auch gleich die Frage, ob Schwarz die unschuldigste oder die hinterhältigste Form von Weiß ist.
    Weiß mit der Vorspieglung falscher Tatsachen in Verbindung zu bringen, ist ein cleverer Zug. Wie oft denkt man, „ich weiß, das es so und so ist“ – und in Wirklichkeit hat man nur irgend einen Unsinn geglaubt. (und hinterher ärgert man sich schwarz) 😉

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    1. Da hab ich von hinten links einen rausgehauen, gell? 😉 Aber da schwarz und weiß eh die beiden Seiten einer Medaille sind, würde ich schwarz ebenso wie weiß von allen Schuld-Unschuld-Verdächten freisprechen. 🙂

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  5. Ich möchte kurz melden, dass ich jetzt, in diesem Moment einen weißen Pullover trage. Und ihn schon den ganzen Tag getragen habe. Und mich dabei unschuldig gefühlt habe, zumindest in Bezug auf diese Sache. Durchaus auch gesamthaft unschuldig, tagesübergreifend und überhaupt. Jetzt hast du aber ein großes Fass aufgemacht. Vielleicht war es unbedacht, einen weißen Pullover anzuziehen. Vielleicht bin ich Menschen begegnet, die deinen skeptischen Beitrag zur Farbe Weiß gelesen haben, die darauf ins Grübeln kamen und denen in der Folge Weißes allgemein verdächtig vorkommt, als Verschleierung, als Vortäuschen falscher Tatsachen. Vielleicht bin ich heute der Schuldigste von allen, weil ich den vielen Weiß-Ablehnenden einen besonders verdächtigen Eindruck vermittelt habe. Es müssen viele sein, das wird mir immer klarer. Diese Blicke verstehe ich langsam. Es war mein weißer Pullover. Es ist daher gut, dass du mich beruhigen willst: Du verleugnest den Dualismus aus Schuld und Unschuld. Aber wer tut das schon? Ich werde morgen wieder meinen weißen Pullover anziehen, denn ich habe ja keinen anderen. Und dann wird es mir schimm ergehen. Mit einem Weiß-Träger wie mir geht man hart ins Gericht. Dabei bin ich unschuldig, ich glaube es zumindest. Kannst du einen Blog schreiben, der die prinzipielle Ablehnung des Schuld-Unschlud-Dualismus zum Thema hat? Dann hört das endlich auf, dass ich ob meiner weißen Kleidung Ablehnung erfahren muss. Dann würde man mir einfach neutral begenen. Das wäre dieser Tage schon eine Wohltat. Dabei war vor deinem Blog noch alles gut. Ich trug die Farbe der Unschuld und die Leute vertrauten mir. Jetzt glauben sie, dass Weißfarbiges Tückisches in sich trägt. Wie die Zeiten sich ändern. Als Weißträger bin ich unschuldig schuldig geworden. Jemand muss etwas dagegen tun. Es muss ja keiner weiß mögen. Wenn nur weiß als durchschnittlich, langweilig und neutral gelten würde. Als gänzlich harmlos und unverdächtig. Als etwas, das nicht weiter der Rede wert ist. Das würde reichen.

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    1. Hihi … Treffer. Zum Thema Dualismus könnte ich mich prinzipiell einmal äußern, ich habe aber einen praktischeren Tipp: Den Pulli ein paar Mal waschen, er wird mit der Zeit eine Farbe annehmen, die langweilig, neutral, harmlos und unverdächtig ist: Er wird grau. ☺

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  6. Das ist mir zu profan. Können wir nicht stattdessen einfach mal kurz die Welt verändern? Übrigens muss ich schmunzeln: Der heißeste Tipp, um einen weißen Pullover grau zu bekommen, ist also waschen. 😉 Eine Mehrheit hätten möglicherweise dafür plädiert, ihn auf unbestimmte Zeit ungewaschen zu tragen, um eine vergleichbare Farbveränderung herbeizuführen. ☺ Aber wenigstens habe ich jetzt einen Ansatz!

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    1. Was interessiert mich die Mehrheit? Ich bin ja tendentiell auch dafür, erst einmal die Welt zu ändern, bevor wir uns um alles andere kümmern. Aber dafür fehlt mir gerade irgendwie die Motivation. Die Welt ist so aus den Fugen, dass die bestimmt explodiert, wenn ich da auch noch drin rumpfusche. *g*

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