Ich sage häufig, dass mich meine Fehlentscheidungen und Niederlagen zu dem gemacht haben, was ich heute bin. Damit bin ich zufrieden. Deshalb betrachte ich meine Fehlentscheidungen und Niederlagen nicht als solche. Vielmehr nehme ich an, dass sie von außen wie Fehlentscheidungen und Niederlagen wirken können. Aus meiner Innenperspektive sind sie das nicht. Vielleicht kann ich deshalb dazu stehen. Aber manches verdrängt man auch gern.

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Das habe ich beim Aufräumen vor dem Umzug gefunden. Die Eingeweihten wissen wahrscheinlich, was es damit auf sich hat. Für die Nicht-Eingeweihten: Das sind Bücher, die man fürs Studium der Mathematik benötigt. Für das erste Semester. Neben dem Jänich, der den Stoff für Lineare Algebra 1 enthält.

Den Jänich, so viel sei gesagt, gibt es auf diesem Bild nicht, weil ich ihn verschenkt habe. Wirklich ein gutes Buch, erklärt einfach. Die Bücher für Analysis II besaß ich auch einmal. Die habe ich aber nicht aufbewahrt. Muss an dem Triumph liegen. Denn ich habe meine Scheine für Analysis I (im ersten Durchgang) und Lineare Algebra 1 (im zweiten Durchgang und mit dem Versprechen, das Mathestudium aufzugeben) tatsächlich bestanden.

Was das mit Verdrängen zu tun hat? Ich lasse es höchstens einmal am Rande durchklingen, dass ich nicht nur Lehramtsstudent war, sondern gerade zu meiner heißgeliebten Philosophie auf Umwegen gekommen bin. Begonnen habe ich nämlich mit der Kombination Geschichte und Mathematik. Die Kombination ist für mich einleuchtend: In beiden Fächern geht es in der Schule um Zahlen, an der Universität nicht.

Es kommt mir mittlerweile ein wenig unwirklich vor, dass ich das tatsächlich drei Semester lang durchgezogen habe, mit Analysis II, dem ersten Anlauf Lineare Algebra I (allerdings nur die mündliche Prüfung) und Stochastik 0 aber gehörig „auf die Fresse gefallen“ bin, um es mal plastisch zu formulieren. Ich bin gescheitert, weil ich nicht verstanden habe, was wir in den Vorlesungen und Übungen eigentlich genau tun. Drei Semester lang nicht.

So unwirklich kam es mir vor, dass ich ganz vergessen hatte, dass ich diese beiden Bücher noch besitze. Und als ich sie in die Hand nahm, überkam mit eine gewisse Betrübnis. Hätte ich nicht noch ein wenig länger durchhalten sollen? Vielleicht hätte es doch noch geklappt. Letztlich bin ich daran gescheitert. Aber ich habe meine Liebe zu einem Studienfach gefunden, von dem ich bis dahin nicht wirklich wusste, dass es das gab. So war mein Scheitern ein großes Glück.

Dennoch: So freimütig ich mit Fehlern manchmal umgehe, es grämt und quält mich, dass es Dinge gibt, die ich nicht verstehe. Deshalb habe ich die Bücher in die Papiertonne entsorgt. Und dass ich mal erfolglos Mathematik studiert habe, bleibt auch unter uns, gell? Soll bloß keiner auf die Idee kommen, es gäbe etwas, was das Zeilenende nicht wüsste oder könnte. Das würde sein Ego tief treffen. 😉

59 Kommentare zu „Schöner Scheitern

  1. Ui! Mathebücher in die Tonne werfen! Böööööse 😉 [eh klar, dass ich zu diesem Beitrag etwas zu vermelden habe, nicht wahr?] Ich habe sogar noch meine Mathebücher aus der Schulzeit aufgehoben. Man weiß ja nie: Dann kann ich meinen Kindern vielleicht einmal zeigen, mit welche schwierigen Aufgaben wir uns seinerzeit, gleich nach der Steinzeit, noch herumschlagen mussten hihi!
    P.S.: Ich nenne meinerseits einen Kasten voller Philosophie-Bücher eine Erinnerung an ein Studium, das ich ich nicht durchgezogen habe, aber vielleicht ja dann im Ruhestand 😉

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  2. Ich bin beim ersten Versuch an eine Musikhochschule zu kommen gnadenlos gescheitert. Mein anschließender Versuch Anglistik und Romanistik für Lehramt blieb bei einem solchen. Und dass ich auch mal Philosophie studiert hab – bei Quine hab ich solche Knoten im Hirn bekommen, dass ich fürchtete, sie nie wieder lösen zu können (das hab ich schon erzählt oder?).
    Aber du hast recht: All diese erfolglosen Versuche haben mich dahin gebracht, wo ich jetzt bin. Und auch wenn mich der Stress grade fast auffrisst und ich zur Gegenwehr selbst viel zu viel esse, bin ich keinesfalls unzufrieden. Sogar beruflich sieht es aktuell eher nach etwas vorankommen als nach ewiger Stagnation aus.
    Die Erkenntnisse darüber, was man nicht gut kann, finde ich fast wichtiger als die, was man gut kann…

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  3. Großartig, dass du loslassen konntest! Somit konntest du auch weiter gehen als du sonst vielleicht jemals gekommen wärst. Ich kenne da einen Mathematik-Studenten, der sich verbissen hat. Er ist hochintelligent, einer der besten und gütigsten Menschen die ich kenne, aber … viele andere Wege zum Glück nahm er leider gar nicht wahr. Und jetzt … ist er nicht mehr ganz so jung …
    So was zu sehen (und nix tun zu können) tut echt weh. Das Ego ist eine ganz seltsame Erfindung, meiner Seel‘ … ! Nochmals allerherzlichste Gratulation zur Fähigkeit, loszulassen :o) !

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    1. Danke. Aber ich kann auch die andere Seite verstehen. Keiner meiner Bekannten aus Mathezeiten hat den Bachelor unter zehn Semestern gemacht. Es schmerzt manchmal schon. Wenn ich keine gute Alternative gefunden hätte, wer weiß.

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  4. Ich kanns dir nachfühlen:-) Zu meinem jetztigen Studienfach bin ich auch nur per Umweg gelangt. Angefangen habe ich mit Kunstgeschichte:-) Vier Semester lang! Hab sogar in einem Crashkurs drei Semester lang mein Latinum nachgemacht:-)Das Leben ist manchmal eben einfach eigen! Es beruhigt mich aber, dass es anderen wohl auch manchmal so geht!:-)

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    1. Menschen, die ihr Leben geradlinig leben, bewundere ich oft. Aber wenn ich mir vorstelle, ich hätte es ebenso gemacht, fühle ich mich unwohl. Ich frage mich manchmal, ob es anders herum genau so ist.

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  5. Oh, Erinnerungen! Den Königsberger habe ich auch noch zuhause, steht neben dem Forster. Wir hatten zusätzlich eine Vorlesung Mathematik I+II für Physiker, in der haben wir dann gelernt, wozu das eigentlich gut ist, was man in Analysis und Linearer Algebra so bewiesen hat ;-). Das half sehr beim Durchhalten.

    Angesichts der Kommentare hier fühle ich mich gerade etwas exotisch, weil ich das Studium, das ich zuerst angefangen habe, tatsächlich beendet habe. Reicht auch ein sowieso nie ernst betriebenes Zweitstudium?

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    1. Genau diese Anwendung hatte man im Mathe-Srudium nie absehbar. Trotz Lehramt. Aber wie ich zu einem anderen Kommentar schrieb: Ich bewundere Menschen mit „glattem“ Lebenslauf dafür, gleich die richtige Entscheidung getroffen zu haben und /oder den Willen, das durchzuziehen. Ich denke nicht, dass du dich schämen musst. Aber selbst ein Studienfachwechsel ist oft schambelastet. Allein schon wegen der Behördengänge.

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  6. Dazu ein paar tröstende Worte von Schreibergott Tom Robbins:

    „Go ahead and fail. But fail with wit, fail with grace, fail with style. A mediocre failure is as insufferable as a mediocre success. Embrace failure! Seek it out. Learn to love it. That may be the only way any of us will ever be free.“

    Leute, bei denen es immer nur aufwärts und geradeaus geht, sind mir immer ein wenig umheimlich…

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  7. Uuuh, ich bin bei Analysis 1 ja mit ach und krach durchgefallen. Dabei wurde die benötigte Punktzahl schon runter gesetzt, damit überhaupt 1/3 der Teilnehmer bestehen.
    Ich habe mal versucht Statistik zu studieren. Aber dass da schon Drittsemester standen mit der Aussage, das Studium wäre der größte Fehler ihres Lebens, aber jetzt machen sie halt weiter, hat mir schlaflose Nächte bereitet. Ich habe im zweiten Semester das Studienfach gewechselt. In Psychologie lief es dann nicht wirklich besser, aber gut…. ich muss mir zumindest nicht vorwerfen, ich hätte es nicht probiert. Und wie man bei dir sieht (und eigentlich immer) man weiß nie wofür es gut ist!

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  8. Tja, da siehste mal…ich gehöre zu denen, die sich jetzt noch denken „hätte ich’s doch mal mit der Mathematik versucht“, hab mich aber am Ende doch durch meinen Studiengang „geschlagen“ und mir die Mathematik über mein Hauptfach Statistik wieder geholt…

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  9. Wegwerfen?! 😮
    Da blutet mein Herz…

    Mathe, ach ja. Die ersten Semester waren hart, wirklich hart. Da halfen nur gute Freunde und viel Schweiß, Blut und Tränen. Bis irgendwann der Knoten platzte. Ich hatte das Glück, die ersten Klausuren zu bestehen, und wi waren damals alle einfach nur froh, das hinter uns zu haben. Die Noten haben wir geflissentlich ignoriert, es ging nur darum weiterzukommen.

    Aber wichtig ist ja, wo dich der Weg hingeführt hat, die vielen Umwege sind dann die Würze beim Erzählen der Geschichte. 😉

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    1. Genau das habe ich auch mitbekommen. Meine langjährige Mitbewohnerin hat es nämlich durchgezogen. Das hat mich lange Zeit ein wenig geschmerzt. Aber bis heute gilt allen, die es durchgezogen haben, meine Hochachtung.

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  10. Wir haben die Wahl – heute mehr denn je…..und da immer gleich auf Anhieb das Non-plus-Ultra zu finden ist nicht immer einfach….

    Und solange nach „Scheitern“ ( eigentlich mag ich dieses Wort ja nicht weil es negativ abstempelt ) auch wieder das Aufstehen – Aufrichten – Weitergehen kommt ist doch alles gut 🙂 das ist Fort-schritt und dazu gehören auch so manche Fehl-schritte in die vermeintlich „falsche“ Richtung….all das ist LEBEN….und gehört zu unserem Lebensweg….und allzu oft entpuppen sich Fehl-schritte im Nachhinein doch als Schritt in die richtige Richtung…. 😉

    Ab da wo andere Menschen negativ tangiert sind von eigenen Entscheidungen sollte man sich Gedanken machen….ansonsten ist jeder seines Glückes eigener Schmied….

    Und wer im Rückblick Dinge als „Scheitern“ verurteilt verleugnet ( und negiert ) sich, und was er nun mal in seinem Lebensrucksack mit sich trägt, selbst….oder noch schlimmer: er ver-ur-teilt seine eigene Entscheidung bzw. sein damaliges Bewusstsein nach dem er gehandelt hat….

    Und selbst die Religionen, die ja früher immer mit erhobenem Zeigefinger lamentierten, sind mittlerweile zur Überzeugung gelangt das ein Mensch sich „schuldig“ macht indem er wider seines eigenen Gewissens handelt….und wir gehen mal davon aus das es ein „reines“ ist 😉

    Also: Du hast Ballast abgeworfen und weidä geht die gude Foahrt! 🙂

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    1. Aus der Bahn, jetzt komme ich. 😉
      Aber im Ernst: Ich finde die Erfahrung zu scheitern wichtig und sehr heilsam. Es stutzt das eigene Ego so gründlich zurecht, dass man sich anschließend neu erfinden muss. Das finde Ich rückblickend sehr befreiend.

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  11. Oh weh, das weckt unschöne Erinnerungen. Ich habe ja auch einen kleinen Umweg zum Bibliothekswesen gebraucht 😉 Aber es waren keine verschenkten Semester – es hat so sein müssen. Analysis und Lineare Algebra II und II waren mir leider auch vergönnt.

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  12. Ach je. Mathe war bei mir der Grund, viele Dinge nicht zu studieren. Psychologie oder BWL zum Beispiel. Aber obwohl ich das studiert habe was ich geliebt habe, wollte ich den Beruf dahinter nie ausüben (Übersetzer) und trotzdem würde ich fast alles wieder genauso machen. Weil es mich doch irgendwie dahin gebracht hat, wo ich heute glücklich bin.
    Übrigens denke ich bei den rotumrandeten Kommentarfeldern hier bei deinem Blog im ersten Moment immer, dass ich was falsch mache. Fehlerhaft ausfülle. Stress! 😀

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    1. Das ist bewusst. Das mit den roten Feldern. Alles im Leben ist falsch. Vor allem das Richtige. Sowas wie „Jura oder BWL oder Medizin studieren, weil man das so macht.“ Ich bin halt Pädagoge geblieben. 😊

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  13. Seine Grenzen kennen ist langfristig wichtig……scheitern gehört zum Leben dazu, wobei eine falsche Studienwahl für mich kein Scheitern ist! Das Leben wird sehr viel interessanter, wenn man viele Dinge ausprobiert!

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  14. Mathebücher gehören in die Tonne, definitiv! Dieses Fach wird vollständig überbewertet und ich finde es grausam, wie viele Menschen und einem Mathesyndrom leiden und selbst 40 Jahre nach den Abiturprüfungen noch klitschnasse Hände bekommen, wenn das Thema in diese Richtung schwenkt. LG Ela☕

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  15. Scheitern gehört einfach in gewissem Umfang zum Leben mit dazu. Man lernt daraus und findet in den meisten Fällen den richtigen Weg für sich. Du hast es bewiesen. Wichtig ist, dass man nicht einen einzigen großen Scheiterhaufen 😉 hinter sich lässt. Wenn dem so ist, dann hat man sicher die Anforderungen an sich selbst zu hoch gesetzt. Du aber hast durch Dein Scheitern erkannt, was Dir mehr liegt als Analysis & Co. und was Dir mehr Freude macht. Mir ging es mit der Chemie so, dass irgendwann mein Kopf nicht mehr erfasste, worum es eigentlich ging. Ist schon seltsam, wenn man irgendwann an seine Grenzen stößt. Mitunter wüsste ich schon gern, ob ich damals wirklich zu dumm war oder ob ich einfach irgendwann verpasst habe, etwas Entscheidendes zu lernen, mir einzuprägen, damit ich auch weiterhin begreife, worum es eigentlich geht. Andererseits, muss man eigentlich alles wissen und können?

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  16. Oh Gott … das weckt Erinnerungen. Mit Linearer Algebra und Analysis musste ich mich auch in der Uni beim Informatikstudium rumschlagen. Für uns war das eher eine gedankliche Grundlage um später schön Papers lesen und verfassen zu können, aber 50% von dem Zeug haben wir nie wieder gebraucht. Ich habe mich da durchgequält. Mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Durch Analysis I bin ich sogar durchgefallen. Damals dachte ich, dass die Welt untergeht. Alle haben einen dadurch definiert, dass man eben irgendwo durchgefallen ist. Plötzlich war ich die, die kein Mathe kann. Dass es in den Informatik-Veranstaltungen bestens lief, interessierte keinen. So schnell geht das manchmal mit den Stempeln, die man aufgedrückt bekommt.
    Aber wie auch dein Bericht zeigt: es gibt einen anderen Weg. Und durch Umwege nehmen wir manchmal noch mehr mit als wir anfangs dachten. Finde ich gut. Aber ich kann dein Gefühl verstehen. Auch wenn meine Geschichten ein bisschen anders ist, schaue ich die Mathe-Bücher auch mit gemischten Gefühlen an, wenn ich sie denn im Regal liegen sehe. Irgendwo ganz weit hinten.

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    1. Mir haben die verzweifelten Informatiker auch immer leid getan, weil die Mathematik mit deren zukünftiger Lebenswirklichkeit auch nicht viel zu tun hatte. So wie mir umgekehrt die BA-Mathematiker leid taten, die Theoretische Informatik hören mussten. Eine der Merkwürdigkeiten unserer StuPO, aber gut. Dass sich gerade bei Mathematikern dieses „Ich definiere mich über bestanden / nicht bestanden“ so stark zeigt, wundert mich bis heute. Ich habe in den Geisteswissenschaften viel über den Tellerrand geguckt. Da gibt es auch Hassvorlesungen (Logik, Statistik), aber da war das diskriminierende Element immer ein Stück Theorie – Kantianer oder Utilitarist, Internationalist oder Kommunitarier … Über Prüfungen ging da nichts. Das war eine völlig andere Welt. Aber immerhin: Wir haben überlebt. ☺

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