Warum sollte jemand, der sich um das täglich Brot kümmert, überhaupt politische Entscheidungen treffen dürfen?

Wann immer es mir um Fragen der Moral geht, hole ich meinen Kant hervor und bin glücklich. Dahinter folgt eine ganze Batterie an Philosophen, die ich gern zu Einzelproblemen heranziehe. Das liegt oftmals daran, dass ich sie so herrlich provokant finde. Aristoteles (der mir bei meinen Überlegungen zum Blogging gute Dienste geleistet hat) ist so ein Beispiel. Über die Staatstheorie des Aristoteles ließe sich viel sagen. Ich versuche es in Kürze.

Grundlagen eines politischen Systems nach Aristoteles

Die polis, ich spreche später auch über heutige Staaten – deshalb der griechische Begriff zur Unterscheidung, ist die Gemeinschaft aller Bürger, die in ihr leben. Die polis ist nicht identisch mit dem geographischen Territorium und auch nicht mit einem Volk. Je nach Interpretation kann man darunter einen Zusammenschluss von Gleichen verstehen oder eine Naturgegebenheit. Wichtig zur Abgrenzung von heutigen Theorien ist aber vor allen Dingen, dass die polis eben nicht durch den Geburtsort oder die Eltern (allein) bestimmt wird. Sondern dass man sich ihr zugehörig fühlt.

In der polis regeln die Bürger die politischen Angelegenheiten gemeinsam in Versammlungen, sie bestimmen per Wahl oder Los Spitzenämter, die Entscheidungen treffen (wie die über Krieg und Frieden), über die Verteilung wichtiger öffentlicher Güter, aber auch über Dinge wie Erziehung und Geburtenkontrolle. Es finden regelmäßig Versammlungen und Zusammenkünfte statt, in denen man sich unter Gleichen austauscht und auf Basis dieses Austauschs Entscheidungen trifft.

Diese Art der Gestaltung politischen Lebens macht die Frage wichtig, wer Bürger sei oder sein sollte. Die Definition ist zunächst: Bürger ist derjenige, der richten darf, d. h. für ein öffentliches Amt wählbar ist. Nun war Aristoteles Philosoph und kein Politikwissenschaftler. Wer sollte also Bürger sein?

 

aristoteles
Aristoteles, den Blick ins Leere gerichtet

Bürger oder nicht Bürger – Abhängigkeit, Freiheit und Ökonomie

Das lässt sich darüber bestimmen, wer kein Bürger sein sollte: Sklaven, Kinder und Frauen scheiden als Bürger aus, weil sie unter der Herrschaft des Mannes stehen. Genauer: Sklaven sind nur physiologisch Menschen, funktional unterscheiden sie sich nicht von Werkzeugen wie Pflügen, Hämmern oder Ochsen. Sie sind nicht frei, also können sie keine Bürger sein. Für Kinder als unfertige Menschen gilt ähnliches, sie können noch nicht frei entscheiden, weil sie unter der Aufsicht ihrer Eltern stehen. Frauen hingegen sind auch nur partiell Menschen, denen leider die volle Fähigkeit zur Vernunft fehlt. Die haben nur Männer. So weit der Chauvi Aristoteles. Spart euch den Shitstorm bis später, ich werde aus Gründen der Plakativität noch ein paar Mal sexistisch.

Haben wir uns also positiv darauf geeinigt, dass Bürger all diejenigen sind, die über die volle Fähigkeit zur Vernunft verfügen, nicht unter Aufsicht stehen und niemandes Diener sind, wird es interessant. Denn auch nicht alle Männer sollten Bürger sein können. Aristoteles will insbesondere zwei Gruppen vom Bürgerrecht ausschließen: Den Handwerker (banausos, daher das Schimpfwort „Banause“) und allgemein denjenigen, der mit den Besorgungen des alltäglichen Lebens für den Haushalt (oikos, daher das Schimpfwort „Ökonomie“) beschäftigt ist.

Der Handwerker scheidet aus, weil er als Lohn- und Auftragsarbeiter nicht viel besser ist als der Sklave. Und es fließen Überlegungen ein, die für den zweiten, interessanten Punkt relevant sind: Der Mann ist Vorstand des Hauses. Als solchem obliegt es ihm, für das Wohl der Mitglieder seines Haushalts zu sorgen. Er ist Unternehmer in eigener Sache. Aber solange er sich damit beschäftigen muss, dass genug Geld in der Haushaltskasse ist, sich mit Fragen der Aussaat auf seinen Feldern, der Gesundheit seiner Ochsen und der Verschwendungssucht seiner Ehefrau herumplagen muss, ist er Ökonom. Sein Handeln ist auf persönliche Interessen gerichtet. Er ist nicht fähig, objektive und für die gesamte polis gerechte Urteile zu fällen und vernünftige Entscheidungen zu treffen. Der Ökonom ist kein Freier, er ist nicht in der Lage, über Politik zu entscheiden.

Demgegenüber steht der freie Mann. Auch er hat natürlich seinen oikos, denn er muss essen, trinken, hat Ochsen und Felder sowie eine verschwendungssüchtige Ehefrau. Aber er hat sich eingerichtet. Seine Geschäfte laufen seit Jahren gut, Ochsen und Felder werden von Sklaven bestellt, die verschwendungssüchtige Ehefrau … auch. Die Kindererziehung hat man einem Hauslehrer überlassen oder der Knabe ist in die Obhut eines anderen Erwachsenen gegeben worden, damit er lerne, kurz: Der freie Mann muss sich keine Sorgen machen, wie er über die Runden kommt. Von den Sorgen des Alltags enthoben, muss er sich bei einer Entscheidung nie fragen, was gut für seinen oikos, sondern nur, was gut für die polis sei.

 

Ein Blick ins Heute: Ökonomisierung der Politik?

Unser heutiges parlamentarisches System, das Abgeordnete für ihre Tätigkeit entlohnt, folgt dem aristotelischen Modell in diesem Punkt. Die Abgeordneten im deutschen Kaiserreich wurden noch nicht entlohnt. Sie haben oft „nebenbei“ gearbeitet, wurden privat alimentiert oder waren Honoratioren, die es sich leisten konnten, kein Geld zu verdienen. Der Staat heute bezahlt seine Parlamentarier, damit sie künstlich zu „freien Männern“ der aristotelischen Theorie werden. Auch wenn sie Frauen sein sollten. Darüber blickt der Staat großzügig hinweg.

Aus der aristotelischen Verachtung für den oikos folgt eine interessante Überlegung: Wirtschaftliche Interessen sind nach Aristoteles zunächst Privatinteressen. Sollte der Staat damit den Bereich der Wirtschaft überhaupt regeln? Und wenn er das tun sollte, darf er selbst wirtschaftlich aktiv werden? Ordnungspolitisch ist es sinnvoll, dass der Staat gewisse Regeln erlässt, die den Markt beeinflussen. Währung festlegen, Arbeitszeiten, Sklaverei ja oder nein, etc. Aber wie weit darf die Einmischung gehen? Und wie weit dürfen wirtschaftliche Interessen für staatliches Handeln eine Rolle spielen?

Sobald der Staat auf Basis wirtschaftlicher Interessen handelt, ist er als „Person“ Vorstand seines oikos. Plakativ: Angela Merkel (auch wenn Joachim Gauck streng genommen der Familienvorstand ist) ist Chefin des Haushaltes Bundesrepublik Deutschland, unser aller „Mutti“. Wann immer sie Entscheidungen (ich vereinfache an dieser Stelle, wir sind natürlich keine Monarchie) zum Vorteil ihres oikos trifft (sei es durch Steuer-Erleichterungen, Subventionen für Unternehmer, die Fusion oder Nicht-Fusion von Supermarktketten, Freihandelsabkommen), handelt sie nicht politisch, sondern ökonomisch, weil es ihr um die Finanz- und Wirtschaftslage ihres oikos geht. Um Privatinteressen.

Bei solchen Fragen holen sich Politiker außerdem gern Rat bei Praktikern. Angela Merkels Vorgänger war ganz groß darin, Entscheidungen nicht selbst zu treffen, sondern sie in Expertenkommissionen fällen zu lassen, die den daraus folgenden Maßnahmen auch teilweise ihren Namen überlassen haben.

 

Argumente statt Zahlen

Es steht außer Frage, dass es Aufgabe eines modernen Staates sei, Steuerfragen zu entscheiden (denn zumindest für die Alimentierung von Parlamentariern ist zu sorgen), die Spielregeln für Produkte festzulegen, Monopole zu verhindern und den wirtschaftlichen Austausch mit anderen Nationen zu regulieren. Das sind per se keine ökonomischen Fragen. Sie betreffen den Staat als Ganzes und als Staat. Doch sobald der Staat seine Politik von Fragen der Haushaltskasse bestimmen lässt, gibt Politik, nimmt man den aristotelischen Gedanken ernst, ihren Gestaltungsanspruch auf und macht sich abhängig, unfrei, nimmt sich das Bürgerrecht. Man könnte sagen: Wer sich daran erfreut, eine schwarze Null zu sein, macht sich klein und wäre im alten Griechenland als Sklave, Kind oder Frau verspottet worden. Dann hätte man ihn von der agora vertrieben und richtige Politik gemacht.

Man würde sich manchmal wünschen, politische Entscheider würden wieder mehr Aristoteles lesen und nicht Zahlen sondern Argumente nennen, warum wir Steuern senken oder erhöhen sollten, ob man des Kaisers alten Kleiderschrank komplett oder in Einzelstücken verkaufen dürfe oder was uns der Freihandel bringt. Doch das sind wohl die Wunschträume eines Philosophen.

Was denkt ihr: Lässt sich Politik zu stark von ökonomischen Fragen beeinflussen oder sind es gerade die ökonomischen Praktiker, die gute Entscheidungen treffen?

Bedarf es gerade der ökonomischen Freiheit, um politisch handeln zu können oder sorgt es nur für Abgehobenheit? Und was bedeutet dann die zunehmende Automatisierung und Digitalisierung für die Zukunft der Poltik?

14 Kommentare zu „Wer ein Haus bewirtschaftet macht keine Politik

  1. Uff! Also so früh am Morgen kann ich mir als verschwendungssüchtige Ehefrau noch keine Gedanken über so schwerwiegende Themen machen. Da bin ich ja noch mit den early-birds Schnäppchen beim Online-Shopping beschäftigt 😉
    Aber die Fragen sind sehr interessant! Berufspolitiker erscheinen mir oft zu weltfern. Ein paar Jahre Praxis in der Wirtschaft und erst dann in die Politik fände ich eine ganz gute Mischung. Zu viel Mitsprache der Wirtschaft in der Politik ist aber gefährlich, weil es den Zweck des Politischen untergräbt. Da bin ich ganz bei Aristoteles: Da wird nur noch aus Eigeninteresse gelenkt. Leider hat die Macht, Dinge zu steuern, großes Suchtpotential und aus ehemals idealistischen Menschen werden rein von Machtinteressen gesteuerte Marionetten (ihrer selbst).
    Die Frage bzgl. Automatisierung und Digitalisierung habe ich noch nicht ganz durchschaut. Die abzuleitende Idee wäre: Mit zunehmender „Freispielung“ der Arbeitskräfte von wirtschaftlicher Tätigkeit bleibt mehr Zeit für Politik? Politiker als Alternative zu Arbeitslosigkeit (sehr überspitzt gesagt)? Wow! Der Gedanke führt zu so vielen Nachfolgefragen, dass ich jetzt erst einmal einen Kaffee brauche 😉

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    1. Ich wusste, dass dir mein Kramen in der Klischeekiste gefallen wird. *gg*
      Aristoteles hat ja beileibe nichts gegen das Erfahrung-Sammeln. Idealtypisch ist ein freier Mann ja kein Erbe, sondern hat sein Haus so gut bestellt, dass er irgendwann eben ein Freier wurde. Und bringt dementsprechend vor allen Dingen Lebenserfahrung mit.
      Was die Digitalisierung betrifft: Genau das meine ich: Wenn wir immer weniger Arbeiten müssen, entsteht dann womöglich eine neue Art von agora, auf denen all die freien Menschen sich austauschen und wieder ernsthaft über Politik reden können? Und das anders, als sie das derzeit auf Facebook tun?

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      1. Mir scheint gar du nimmst fb Diskussionen nicht ernst?! 😉
        Bei steigender Freizeit, dem Kommunikationswandel aufgrund von social media, dem generell sinkenden Konzentrationsvermögen … wo war ich gerade? ach ja! … und dem Angebot an Serien für binge-watching habe ich so meine Zweifel, dass es zu einem tiefergehenden Austausch über Politik kommen wird. Als notorische Pessimistin muss ich aber auch davon ausgehen, dass ich mich diesbezüglich irre, somit müsste eine politisch aktive Generation schon in den Startlöchern scharren 🙂
        Und für eine neue Art von angora ist ja im Internet auf jeden Fall Platz – cat content zieht immer, wer würde denn nicht flauschige Langhaarkatzen lieben? 😂

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  2. Die ”neuen” Griechen haben das ja wunderbar demonstriert. Die haben sich gesagt: Wir machen Politik mit Stil und rotten gleichzeitig jeden Verdacht der ökonomischen Rücksichtnahme mit Stumpf und Stiel aus. Ein KANTersieg der Politik über die Ökonomie. Oder war es doch eher ein Kentersieg? [Vielleicht hat Aristoteles ja genau das vorausgesehen – deshalb der Blick ins Leere.]
    Ein nicht geringes Problem der Gegenwartspolitik sehe ich darin, dass die Wirtschaft längst im großen Stil global operiert, während die Politik nach wie vor vorwiegend mit Nationalwurstelei beschäftigt ist. Oder man generiert supranationale Warmluft, die in der Praxis ohne wesentliche Konsequenzen bleibt.
    Letztlich ist die Politik zwischen Hammer (globale Wirtschaft) und Amboss (Staatskasse). Je mehr die Bürger den Staat als Wunscherfüller Nr. 1 ansehen, desto mehr müssen die Politiker die Ökonomie in den Vordergrund rücken. Und dazu gehört dann auch, dass man globale Konzerne irgendwie bei Laune hält.
    Die Automatisierung ist ein Hoffnungsschimmer. Schachcomputer sind ja längst weitaus leistungsfähiger als der durchschnittliche Spieler. Ähnliches wäre im politischen Bereich bestimmt auch denkbar.

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    1. Ich sehe die Sache in Griechenland ja umgekehrt. Der Staat prä-finanzkrisiell funktionierte wunderbar nach den Regeln der Marktwirtschaft, nämlich: So lange genug Geld flüssig ist, spielen Staatsschulden keine Rolle und das Geld kann ausgegeben werden. Und auch wenn es politisch durchaus legitim ist, über seine Verhältnisse zu leben, wurde die Bevölkerung gekauft, statt ihr Politik zu bieten. Wie du sagst: Der moderne Wohlfahrtsstaat verkommt häufig zu einer riesigen Alimentationsmaschine.
      Deine Überlegungen zu Politikcomputern hatten mich dann glatt zum Schmunzeln gebracht, andererseits: Wenn Politik berechenbar wird, ist sie dann nicht auch ökonomisch … Und damit keine Politik mehr? 😉

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      1. Das ist jetzt die große Frage. Verprassen ist ja in gewisser Weise hochgradig unökonomisch – also Politik… Oder? 😉
        Und die Sache mit den Computern. Wenn Politik unberechenbar ist, ist sie dann nicht Wahnsinn? Und damit keine Politik mehr? Oder ist politischer Wahnsinn gar reine Vernunft – so lange er nur um alles in der Welt nicht „ökonomisiert“ ist?

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  3. Hey, bin gerade auf deinen Artikel gestoßen, danke für die wohl überlegten Worte. Es ist schön zu lesen, dass nicht nur dunkle Ängste und Demokratiegegner unter den Bloggern herumtreiben. Wie du teile ich das Interesse für politische Philosophie und habe mich, wenn auch etwas kürzer, in meinem letzten Artikel mit der Demokratie beschäftigt. Schau doch mal vorbei, vielleicht findest du dich auch darin wieder, so wie ich einige meiner Anliegen bei dir gefunden habe.
    Ich halte es am ehesten mit dem Schleier des Nichtwissens von John Rawls. Damit würden heute einige Menschen klarer sehen.

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    1. So spannend finde ich politische Philosophie eigentlich gar nicht, von gewissen Teilbereichen einmal abgesehen. Die ganze Gesellschaftsvertragsdebatte finde ich sogar ziemlich ermüdend und dass Rawls das Eigeninteresse in die Theorie Kants eingeschleust hat, verzeihe ich ihm bis heute nicht. *gg*
      Dennoch danke für deine netten Worte, ich schaue wohl häufiger bei dir vorbei. 🙂

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