Jeden Montag stellt das Buch-Fresserchen eine Frage rund um Bücher, Literatur und das Lesen. In dieser Woche möchte sie im Auftrag von Sanne von Wortgestalten wissen, ob wir ein schlechtes Gewissen haben, wenn wir bspw. etwas essen, während die Figur im Buch hungert.

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Die Frage ist zumindest in Bezug auf das Essen einfach zu beantworten: Nein. Das liegt einfach daran, dass ich nur sehr, sehr selten etwas esse, während ich ein Buch lese. Genau genommen passiert das nur in den wenigen Situationen, in denen die Momente „Essen ist fertig“ und „Ich muss das Buch auslesen“ zusammenfallen. Da ich meistens selber koche, habe ich aber Einfluss darauf, dass das nicht passiert. Und beim Essen in Büchern zu lesen finde ich unheimlich anstrengend. Man muss irgendwie das Buch halten und sich nebenbei darauf konzentrieren, die Seiten nicht vollzuklecksen. Da mache ich lieber eine Pause und lese danach mit neuem Elan weiter.

Auch nebenbei knabbern mache ich selten, weil ich keine Krümel im Buch haben will und Schokoladenstriemen an den Rändern immer unheimlich peinlich sind. Von daher hungere ich wenn mit den Figuren mit, weil ich mir denke, ich müsste jetzt etwas essen, aber erst will ich wissen, wie du aus der Nummer wieder herauskommst.

An verdurstende Charaktere, während ich etwas trinke, kann ich mich spontan nicht erinnern, ich denke aber, insgesamt hätte ich da wenig Beklemmungen, denn wo sollte diese Identifikation enden? Ich müsste ein schlechtes Gewissen haben, wenn die Figur gegen ihren Willen eingesperrt ist und ich frei bin zu gehen wohin ich will. Okay, das stimmt nicht ganz. Eigentlich befinde ich mich in der gleichen Situation, weil das Autorenwesen mich in das Buch eingekerkert hat, von dem ich nicht los komme und ich von diesem armen Figürchen lesen muss, das genau so leidet wie ich. Oder fast so sehr leidet wie ich es tue.

Müsste ich, wenn ich solche Schuldgefühle entwickle, nicht umgekehrt auch neidisch sein, wenn ein Charakter etwas hat, was ich gern hätte? Ich mache mir Sorgen, ob das Haushaltsgeld bis zum Ende des Monats reicht und die Figur überlegt, welche Kreditkarte sie zum Bezahlen nehmen soll, die Figur bekommt einen Heiratsantrag und ich selbst kann mich schon nicht mehr dran erinnern, wann ich zuletzt beim Flirten über die ersten fünf Sekunden hinaus gekommen bin?

In beiden Fällen – Ich habe was, das die Figur entbehrt, die Figur hat etwas, das ich entbehre – bin ich ziemlich leidenschaftslos. Mitleid empfinde ich durchaus, aber nicht so stark, dass ich deshalb ein schlechtes Gewissen haben sollte. Wie geht es euch? Seid ihr zu mehr Empathie fähig als ich und vergeht euch der Appetit, wenn Figuren hungern? Oder seid ihr genau so gefühlskalte Felsen wie ich, die sich an einer gut geschriebenen Hungerphantasie unverschämterweise sogar noch erfreuen?

22 Kommentare zu „Montagsfrage: Nagende Schuldgefühle

      1. Dummerweise passiert sowas manchen Menschen schneller, als man gucken kann. Obwohl ich mich durchaus zu den Feinmotorikern zähle, durfte ich schon ein Büchereibuch ersetzen, dem ich unabsichtlich ein Kakaobad gegönnt habe. Teurer Spaß, kann ich euch sagen!
        Und Flecken, Krümel oder sonstige Ärgernisse in eigenen Büchern? No way! Eher ziehe ich Samthandschuhe bei der Lektüre an … ;o)

        Und zum eigentlichen Post: Passt, wackelt und hat Luft!

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    1. Aber hat es nicht auch etwas Nostalgisches an sich, wenn du irgendwann mal wieder ein Buch aufschlägst und da auf Seite 234 diesen Rotweinfleck siehst? Dann denkst du dir: Hach, ja, da war gerade diese Szene, wo es aus dem luftig leichten Liebesgeplänkel unversehens in eine sehr heiße Szene wechselte. Und du warst so überrascht, dass du dich just in dem Moment verschluckt hast und den Rotwein über die Seiten gespuckt hast. Dabei wurde dir ganz wohlig warm und es war so erleichternd, als du endlich wieder Luft holen konntest und dir der Rotwein noch in der Nase brannte …

      So oder so ungefähr stelle ich mir das gerade vor … 😉

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  1. Das Bild ist jedenfalls köstlich. Ein Buch-Fresserchen und nagende Schuldgefühle in einer einträchtigen Knusperorgie. 😀
    Die Frage halte ich für sehr interessant. Allerdings zielt sie für meine Lesegewohnheiten zu sehr auf den Augenblick. Mir jedenfalls geht es vorrangig um die großen Linien. Die aktuelle Situation ist in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Wie ist es dazu gekommen? Wie geht es weiter? Wirkliche Empathie kann meines Erachtens erst dann entstehen, wenn man nicht nur auf eine Situation reagiert, sondern indem man an einer (beschriebenen) Persönlichkeit und ihrem Schicksal umfassender Anteil nimmt. Dies geht im Idealfall dann so weit, dass man sich seiner selbst und seiner Handlungen (und deren Auswirkungen) bewusster wird. Aber das geht dann weit über den einzelnen Punkt hinaus, an dem das Erleben einer erzählten und einer lesenden Person (vielleicht zufällig) auffallend kontrastieren.

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