Wann immer mir keine Antwort für die Montagsfrage einfällt, beantworte ich eine Frage, die sich am so genannten Proust-Fragebogen orientiert. Diese Fragebögen waren in den gehobenen gesellschaftlichen Schichten Europas des späten 19. Jahrhundert ein beliebtes Vergnügen, auch Marcel Proust beantwortete sie und verspürte dabei besonderes Vergnügen. Mir geht es ähnlich, denn mit jeder Antwort lerne ich mich auch selbst ein bisschen besser kennen.

Eine Frage, die zum Rückblicken einlädt. Als Kind wäre ich gern Astronaut gewesen. Genau genommen wäre ich gern Besatzungsmitglied der Enterprise geworden. Astronaut war schon ein Kompromiss, weil das mit der Enterprise in naher Zukunft nicht absehbar gewesen war.

Später dann wollte ich Lehrer werden. Sehr lange. Bis ins Studium hinein. Mein Studienabschluss sagt bis heute: Dieser junge Mann wollte einmal Lehrer werden. Etwas, das ich in manchen Momenten als Makel empfinde, weil es mich in die Situation bringt, mich erklären zu müssen. Anders als jemand, der meine Fächer im Bachelor-Modus absolviert hat. Da muss man sich rechtfertigen, dass man die Fächer studiert hat. Das kann man über Neigungen und erworbene Kompetenzen tun. Ich muss erklären, wie sich ein Wunsch ändern konnte.

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Manchmal will ich hoch hinaus …

Was man sein möchte, kann man sich dennoch aussuchen. Man kann Entscheidungen treffen. Man hat Einfluss. Wer du sein möchtest, ist eine gefährliche Frage.

Wer entdeckt, dass er vom normativen Mainstream abweicht, der wünscht sich manchmal schmerzhaft, „normal“ zu sein. Bist du dick, kannst du dich noch so wohl fühlen, es wird irgendwann den Punkt geben, an dem du dir wünschst, so schlank wie alle anderen zu sein. Widmest du deine gesamte Freizeit Science-Fiction-Themen, wünschst du dir manchmal, du könntest die Begeisterung für Fußball zumindest nachvollziehen. Bist du immer ein nachdenklicher Grübler, wünschst du dir irgendwann einmal so heiter und unbeschwert durch deine Jugend zu tappsen wie die Menschen gleichen Alters. Homosexuelle, die sich wünschen, heterosexuell zu sein, Transgender die versuchen, sich mit ihrem Körper anzufreunden. Menschen mit Beulen, Dellen, Narben … Ich habe in meinem Bekanntenkreis eine Frau, die sich einmal sehr ernsthaft gewünscht hat, ein Mann zu sein, um als chauvinistischer Arsch auftreten zu können und nicht immer um Anerkennung kämpfen zu müssen.

Die Liste ließe sich endlos verlängern. Ich denke, jede*r von uns wird den ein oder anderen Punkt finden, an dem er gern jemand anderes gewesen wäre. Mehr so wie alle anderen. Und sei es nur in einem schwachen Moment, von einer bitteren Enttäuschung niedergeschlagen, deren Schmerz man vergeblich im Alkohol ertränken wollte.

Wer hätten Sie gern sein mögen? Die Frage ist herrlich, um mit Nostalgie auf das eigene Leben zurückzublicken. Es ist aber keine Frage, an der man sich zu lange aufhalten sollte. Man sollte sie in der Gegenwartsform stellen: Wer möchtest du sein? Dann kann man im Anschluss fragen: Wer oder was hindert dich daran, so zu sein? Dann kannst du erkennen, dass du doch nicht so sein willst … Oder dich gegen die Hinderungsgründe stemmen. Kämpfen. Um du sein zu können.

Ich will gern ein Mensch sein, der sich nicht von den kleinen Dämonen ärgern lässt. Diejenigen, die gern an trüben Tagen, lieber noch in dunklen Nächten herauskommen. Immer dann, wenn man glaubt, der einzige Mensch auf Erden zu sein, der sich mit wirklich großen Problemen plagt. Ich bin gut dabei. Aber ich weiß, dass sie gleich um die Ecke lauern. Jederzeit.

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… und manchmal möchte ich mich auch nur treiben lassen.

22 Kommentare zu „Proust-Fragebogen: Wer oder was hätten Sie gern sein mögen?

  1. Vor ein paar Jahren hätte ich gesagt ’normal monogam‘. Inzwischen bin ich auch wer ich sein will 🙂 Mein einziges grundlegendes Problem ist meine Faulheit, aber die wurde in den letzten zwei Jahren quasi systematisch dezimiert. Wir hatten lange kein stummes gegenseitiges Anschweigen mehr während ich etwas Wichtigeres hätte tun sollen ^.^

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      1. Naja, sich groß über sich selbst aufregen … das bringt nur Stress. Dafür bin ich dann wieder zu faul 😉

        Allgemein gesprochen, hatte ich bisher nur bei diesem Thema tatsächlich das Problem mit der Normalität. Die von meinem Umfeld war nämlich so absolut anders als meine. Das gab einmal eine große Entladung, als die Spannungen zu groß wurden und dann haben sich die meisten mit mir und meinem ‚Normal‘ arrangiert. Ich habe letztlich (zumindest in meiner Familie und meinem Freundeskreis) eine neue Definition von Normal geschaffen.

        Und mit der fühlen sich nun zum Glück alle wohl. Sonst wären wir wieder bei dem stressigen Teil der Geschichte 😀

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      1. Frauen mögen es auch nicht, nebeneinander in der Kabine zu hocken und sich furzen und pissen zu hören.
        Aber ihr holt euch nicht noch dazu irgendwelche ekligen Krankheiten, weil ihr außer euch selbst am Pissoir nicht viel anfassen müsst 😀

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  2. Es gibt diese schöne Weisheit: Wähle deine Wünsche mit größter Sorgfalt aus – sie könnten wahr werden. Viele Rollen, die das menschliche Leben zu bieten hat, wirken deshalb so attraktiv, weil wir sehr wenig darüber wissen. Wir sehen gleichsam die Spitze eines Eisbergs, die wir dazu noch idealisieren. Zwar wäre es bestimmt spannend (und lehrreich), einfach mal temporär in eine ganz andere Rolle zu schlüpfen. Als Gedankenspiel ist das also sicher mal ganz aufschlussreich. Und ich bezweifle auch nicht, dass manche Menschen so grundlegend im falschen Film sind, dass drastische Änderungen sinnvoll (bis notwendig) sind. Für die meisten von uns steht aber wohl die Frage im Vordergrund: Wie kann ich das, was ich bin, so (aus)leben, dass ich gut damit leben kann?

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    1. Eben … Das, was wir sehen, ist immer nur die Rolle. Nie der Mensch, der sich hinter der Rolle verbirgt. Und der ist ein Mensch, der genau so seine Abgründe, Zweifel und dunklen Geheimnisse kennt, wie die jeder normale Pups auch hat. Danke für die schöne Ergänzung. 🙂

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      1. Wenigstens wird es heute eher gutgeheißen, wenn jemand eben auch zu den Schattenseiten steht. Lange wurde ja um jeden Preis die glänzende Fassade aufrecht erhalten, selbst wenn sich dahinter Dinge verbargen, neben denen die Büchse der Pandora wie eine harmlose Keksdose wirkte (okay, das ist jetzt vielleicht etwas dick aufgetragen). Das führt zu einem etwas realistischeren Bild gewisser Traumkarrieren. Und es kann auch Menschen Mut machen, die sich mit ähnlichen Schatten duellieren.

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      1. Das kann sein… aber mal ganz ehrlich: Wegen irgendwelchen Lebens- oder spaßänderungen NOCHMAL 40 Jahre arbeiten? Neeee… niemalsnicht. In 11 Jahren sitz ich im Schaukelstuhl und guck anderen beim Arbeiten zu 🙂 🙂

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