Vor langer, langer Zeit habe ich darauf hingewiesen, dass die ferne Vergangenheit uns ganz nah sein kann, so wie kurz zurückliegendes ewig her zu sein scheint.

Zeitspannen haben etwas magisches an sich. Der Sekundenzeiger nährt die Illusion, dass die Zeit gleichmäßig abläuft. Aber wer schon einmal darauf warten musste, dass er an der Reihe ist und gelegentlich einen Blick auf die Uhr wirft, kennt das Phänomen, dass die Zeit gedehnt wird. Und wer auf dem Heimweg von der Party des Jahres noch eben frühstücken will, kann umgekehrt den Satz der Café-Bedienung hören „Frühstück nur bis 12“. Dabei hatte man doch noch den Geschmack des ersten Biers auf der Zunge.

 

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Zeit vergeht Tick für Tack

 

Auch Zeitabstände unterliegen unterschiedlicher Perspektive, je nachdem, aus welcher Perspektive man auf sie blickt. Die Lehrer*innen unter euch kennen dieses Phänomen wahrscheinlich. Erinnert ihr euch noch daran, als ihr angefangen habt, frisch von der Universität ins Referendariat gestürmt seid?

Es gibt diese Momente, in denen es ums Alter geht. Da wird der Praktikant gefragt, wie alt er ist. Er fühlt sich den Oberstufenschülern eigentlich noch recht nahe, ist ja erst Mitte 20. Man teilt gemeinsame Interessen, Vorlieben für Filme, Bands, Bücher oder Fast-Food-Restaurants. Gibt er sein Alter preis, kommt ein „Boah, so alt.“ Oder die Situation wird noch extremer und der Lehrkörper wird qua Lehrkörperfunktion zum Greisenkörper erklärt.

Mich hat es auch erwischt. Ich stehe seit knapp 2,5 Jahren mit abgeschlossenem Studium dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Meine Gewohnheiten aus Studententagen haben ich noch längst nicht alle aufgegeben, ich „studiere“ für mich ja sogar weiter, wie ihr hin und wieder leid- oder lustvoll miterleben dürft. Auch die böse 3 steht noch nicht vor meinem Alter. Ich fühle mich zwar nicht jung, aber jung geblieben. Jung klappt gerade nicht, weil ich mein Training in den letzten Wochen vernachlässigt habe und trotz geringerer Anzahl an Wiederholungen pro Satz gestern ein fieses Ziehen im Rücken spüre.

Als ich auf Zimmersuche in Stuttgart war, habe ich nur wenige Ausschlusskriterien definiert. Studenten-WG war keines davon. Ich habe lange genug studiert und bis zuletzt Erstsemester betreut, um keine Berührungsängste zu haben. Ersties sind auch nur Menschen. Also besuchte ich auch eine Studenten-WG. Der potentielle Mitbewohner des Zweier-Arrangements war sechs Jahre jünger als ich und lag in den letzten Zügen seines Bachelor-Studiums. Laut WG-Angebot wäre ich ein Jahr zu alt gewesen, aber was ist schon ein Jahr, dachte ich mir, wenn es passt? Der Mitbewohner-Suchende dachte ähnlich.

Das Kennenlernen war angenehm, die Wohnung war nett, letztlich entschied ich mich allerdings für eine andere Wohnung. Ganz unabhängig von Altersfragen. Gepasst hätte es mit der Wohnung und dem Mitbewohner sehr wahrscheinlich. In einer anderen Wohnung stimmte das Gefühl einfach besser. Ich schrieb also eine Mail an den sympathischen jungen Menschen, den ich nicht zum Mitbewohner auserkoren hatte und sagte ihm ab. Er schrieb mir zurück, dass er es sich „trotz des Altersunterschieds“ ebenfalls gut hätte vorstellen können, mir Obdach zu gewähren und dankte für die Absage. Das mache ihm die Entscheidung leichter.

Ich schüttelte grinsend den Kopf. Der Kerl war sympathisch, wo bitte sind da sechs Jahre ein Altersunterschied? Der muss an mir vorbei gegangen sein. Ich hatte den Unterschied gar nicht wahrgenommen. Mein Leben war dem Studium zwei Schritte entflohen, aber ich blicke immer noch darauf zurück, als sei es gestern gewesen, dass ich mit dem Rad zum Fakultätsgebäude gefahren bin, um ein Seminar zur Politik des Aristoteles zu besuchen. Mein Horizont ist zwar über die Politik hinaus gewachsen, aber auch nur bis hin zu Platons Politeia und auch das noch während des Studiums.

Für den Anderen spielten solche Fragen allerdings eine Rolle. Ich weiß nicht, ob es ein unbewusstes Unterlegenheitsgefühl war – das hatte ich anfangs verspürt, wenn ich mit Doktorand*innen zu tun hatte – oder die Unterstellung, die Lebenswelt passe nicht zusammen. Vielleicht war es auch nur „so ein Gefühl“ bei dem Gedanken, mit jemandem zusammen zu wohnen, der x Jahre älter ist. Aber wie groß muss x sein, damit x Signifikanz entwickelt? Und wenn x aus meiner Sicht keine Rolle spielt, wie kann es da sein, dass x aus seiner Sicht eine Rolle spielt? X bleibt gleich. Es ist eine Zahl, die einen festen Abstand definiert, aus beiden Perspektiven den gleichen, einen stets gleich bleibenden Abstand.

Vielleicht ist Zeit ein Weg: Hat man ihn noch vor sich und muss ihn zurücklegen, scheint er endlos zu sein. Hat man ihn zurückgelegt, stellt man fest, dass es gar nicht so weit war und geht noch ein Stück weiter. Ich fühlte mich zu befangen, auf die zugegebenermaßen sehr nette Mail zu antworten. Hätte ich vielleicht mal machen sollen. Dann hätte ich nachfragen können, ob meine Vermutung stimmt. Wir hätten dann gemeinsam eine Theorie des unterschiedlichen Zeitempfindens entwickeln können und unseren Altersunterschied produktiv nutzbar machen können.

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Vielleicht ist das Verinnen der Zeit doch eine unscharfe Angelegenheit.

25 Kommentare zu „Nah oder fern

  1. Alter ist relativ, das merke ich immer wieder. Schon vor der magischen 3 fühlte ich mich schon lange zu alt für eine WG. Tja nun habe ich seit 3 Monaten wieder eine Mitbewohnerin. Sie hat den Sprung zur 3 vor der zweiten Zahl schon etwas länger hinter sich gebracht, aber es passt einfach. Das hab ich bei ihr auch sehr schnell festgestellt. Gleicher Humor, gleiche Hobby, ähnlicher Filmgeschmack und quatschen können wir über alles mögliche. Man merkt einfach, Altersunterschied oder unser Alter spielt da keine Rolle.
    Wenn sie einmal auszieht werd ich zwar vermutlich nicht direkt an nächste schwarze Brett nach jemand neues suchen. Sollte sich aber nochmal so etwas ergeben und es passt einfach, dann gerne, auch wenn zwischen uns ein paar Jahre liegen 🙂
    Und im Herzen sind wir alle doch eh manchmal erst 10 😉

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    1. Ich bin im Herzen meisten so … 16 … Ziemlich pubertär eben. *gg* Humor und Hobbys sind viel wert, ebenso wie eine ähnliche Einstellung zur Welt. Darauf kommt es sehr viel mehr an. Das stimmt schon. Ich für meinen Teil kann mir ehrlich gesagt derzeit gar nicht vorstellen, allein zu wohnen.

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  2. Du sprichst mir so aus dem Herzen. Für mich hat das Alter eigentlich auch nie eine Rolle gespielt, denn ich hatte immer Freunde, die jünger waren als ich. Das lag vor allem daran, weil ich in der Schule eine Ehrenrunde gedreht habe und sich dass dann natürlich auch im Studium weiter fortgesetzt hat. Nur wenn mich wirklich jemand darauf anspricht, dann wird mir bewusst, wow, du bist schon 28. In zwei Jahren bist du 30 und wo stehst du im Leben? Das macht einem dann Angst, wobei man diese Welle aber nicht über sich zusammenbrechen lassen darf. Und wie @bibobuchling schon geschrieben hat, das Alter ist relativ, man ist so alt wie man sich fühlt 😉

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    1. Oh .. DAS Gefühl kenne ich auch nur zu gut „Du bist jetzt schon 25/29 und was machst du da eigentlich?“ … Ich hatte das gleich zwei Mal. Aber ich habe das Problem auf meine eigene Art und Weise gelöst: In diesem Jahr gab es keine Geburtstagsfeier, also kann ich nächstes Jahr 29 werden … Und danach schauen wir mal, ob die Welt noch existiert. ^^

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  3. Oh je, die 3 war heiß ersehnt, die 4 dann schon etwas weniger, die 5 war egal und die 6 dann richtig schlimm. An die 7 denke ich lieber nicht. Eigentlich habe ich mir vorgenommen, Geburtstage gänzlich zu ignorieren. Was natürlich nicht gelingt. Vielleicht sollte man anfangen, ab 60 rückwärts zu zählen?
    Im Freundes- und Bekanntenkreiskreis spielt der Altersunterschied überhaupt keine Rolle mehr. Dass viele viel jünger sind merke ich nur daran, dass ihre Kinder noch so klein sind.
    Je älter ich werde, umso schneller scheint die Zeit zu vergehen. Egal, ob ich viel oder wenig erlebe. Früher wirkte die Lebenszeit so endlos, dann wurde der Zeit-Weg, der auch im günstigstem Fall vor mir lag, immer kürzer. Vielleicht liegt es daran, dass für mich die Zeit rast und nicht mehr verrinnt. Sogar, wenn ich auf die Bescherung am Heiligabend warte…..

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      1. Alles nicht! Manches wird auch intensiver. Oder einfach nur anders. Na gut, der Lack schon, der bekommt Risse und Falten und Pölsterchen. Aber das ist ja auch gut so, irgendwie müssen sich die Generationen ja voneinander unterscheiden….

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  4. Die Zeit, des Lehrers Hauptangelegenheit im Alltag. Unterrichten im Stundentakt, wobei eine Stunde nicht 60 sondern 45 Minuten hat. Die Zeit beachten, pünktlich sein. Termine über Termine, zu denen man vorgegebene Zeiten wahrnehmen und beachten muss. Unterrichtszeit, die ausreicht, Konferenzzeit, die stets als überflüssig erscheint. Der gesamte Alltag ist beherrscht von Zeit, vom steten Blick auf die Uhr. Von daher legen wir im Lehrercafe als erstes unsere Armbanduhren am letzten Schultag ab und legen sie erst am ersten Schultag wieder an. Die Ferienzeit gehört nicht der Uhr und der vorgegebenen Zeit sondern der Zeit ohne Uhr und ohne Vorgaben, der süßen freien Zeit. Ach Zeilenende, und schon wieder hast du uns zu einem neuen Beitrag angeregt. Du bist und bleibst unser Inspirator😊 LG aus dem Lehrercafe☕

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  5. Wenn wir unsere Lebenszeit als LebensWEG definieren, impliziert das ja, dass von einer Strecke die Rede ist. Und da frage ich mich manchmal: Was würden wir tun, wenn wir nicht nur die Strecke kennen würden, die hinter uns liegt – sondern auch diejenige, die wir noch VOR uns haben? Es spricht für das Wesen der erlebten Zeit, dass wir, die noch vor uns liegende Zeitspanne (unabhängig von der tatsächlichen Dauer) manchmal erfreut begrüßen und manchmal nach Herzensunslust verfluchen würden…

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  6. „….Wir hätten dann gemeinsam eine Theorie des unterschiedlichen Zeitempfindens entwickeln können und unseren Altersunterschied produktiv nutzbar machen können.“ ….hm……hat man das ganze dann ausdiskutiert und will es produktiv nutzen….kann dann die andere Mitwelt etwas damit anfangen? Ist es nicht immer wieder neu….in immer wieder neuen Konstellationen?

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  7. Deswegen spreche ich gern von „lebenshistorischem“ Alter: Man stelle sich einen Hauptschüler vor, der mit 14/15 seinen Abschluss macht, eine zwei- oder dreijährige Ausbildung in Angriff nimmt und dann zur Volljährigkeit in die Berufswelt einsteigt. Und man vergleiche diesen mit jemandem, der sagen wir mal aufgrund von Sitzenbleiben sein Abi erst mit 20 gemacht hat, dann Zivildienst/Grundwehrdienst leistete, dann zwei Jahre als Backpaper umhergezogen ist und dann zehn bis zwölf Jahre auf Diplom studiert hat und seinen ersten richtigen Job mit 35 bekam. Wenn diese beiden Personen jetzt 38 sind. Wer wird lebenshistorisch wohl älter sein? 😉
    Ich denke, ab einem Alter von 25 (davor passiert noch sehr viel in der Entwicklung) zählt nur noch das lebenshistorische Alter.

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    1. Das ist ein schöner Begriff, der mir sehr gut gefällt. Und er erklärt so einiges. Obwohl auch da viel von der Selbstwahrnehmung abhängt. Ich bin ja schon seit drei Jahren „auf dem Markt“, aber die Art der Arbeit hat einen Gutteil dazu beigetragen, dass es sich nicht wie Arbeit angefühlt hat. Nicht mal formal. Das war auch nur eine Konstante, wie Uni-Vorlesungen auch.

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  8. Ich frage mich auch oft, wieso dem Alter(sunterschied) so viel Bedeutung geschenkt wird. Zumal er oft gar nicht auffiele, würde niemand nach dem Alter fragen. Wenn ich einerseits höre, ich sei mit 28 doch schon viel zu alt, ich dann aber frisch rasiert meinen Ausweis vorzeigen muss, wenn ich etwas alkoholhaltiges kaufen will, verstehe ich echt nicht, was das mit dem Alter auf sich hat 😀
    Sicher, Lebens- und Berufserfahrung wirken sich in irgendeiner Weise aus, aber wenn Sympathie vorhanden ist und man miteinander zurecht kommt… wen interessiert dann diese doofe Zahl?

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    1. Willkommen im Club, Bruder. Erst vorletzte Woche wollte ich mal wieder Waren ohne Jugendfreigabe erwerben und mein Personalausweis wurde so kritisch beäugt, dass ich Sorgen hatte, ich würde jetzt auch noch meine Geburtsurkunde herzeigen müssen. *gg*
      Aber das Problem ist ja weniger das Aussehen sondern der angenommene Unterschied an Lebenserfahrung. Als mönchisch-kindlicher Charakter fehlt mir da bloß der Zugang.

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