Ich sollte sechs Bücher benennen, die ich im Jahr 2016 unbedingt lesen möchte. Dies ist das letzte Buch der Reihe. Manchmal bin in der Stimmung, mich auf den Mond zu schießen. Das ist logistisch einfacher als die Unzahl an Menschen auf den Mond zu befördern, die bei meinem Verbleib auf der Erde weichen müssten. Als Reisevorbereitung gönnte ich mir den Klassiker von Jules Verne.

bücherchallenge

Inhalt lt. amazon.de

Wer Mitglied des „Kanonenclubs“ in Baltimore werden will, muß eine Kanone erfunden oder zumindest technisch verbessert haben. Nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkrieges sitzen die führenden Mitglieder untätig herum, denn in den Vereinigten Staaten ist bis auf weiteres kein neuer Krieg in Sicht. In dieser desolaten Situation hat der Präsident des Kanonenclubs, Impey Barbicane, eine Idee: Er schlägt vor, eine Kanone zu bauen, die so groß ist, daß sie ein Geschoß auf den Mond befördern kann. Die übrigen Mitglieder des Clubs, ja die ganze amerikanische Nation, sind begeistert. Eine große Herausforderung für Wissenschaft, Technik und Industrie. Es gilt, astronomische Daten zu berechnen, Umfang und Länge der Kanone zu bestimmen, die Größe des Projektils und seine Flugbahn festzulegen. Und schließlich müssen die Gelder für diese gewaltige Unternehmung aufgetrieben werden, ein geeigneter Abschußort gefunden und die Riesenkanone muß gebaut werden. Eine gigantische Aufgabe, für deren Verwirklichung der typisch amerikanische Optimismus vonnöten ist. Doch da meldet sich ein geheimnisvoller Besucher aus Europa, der eine noch kühnere Idee hat …

 

Science

Wir haben es hier mit einer Geschichte aus dem Jahr 1865 zu tun. Die Science Fiction als Genre war noch gar nicht erfunden. Wie auch, wenn Jules Verne und H. G. Wells die Pioniere dieser Art von Geschichte sind. Und es sollte noch eine Weile dauern, bis sich das Genre der Phantastik so weit ausdifferenzierte, dass man zwischen Fantasy und Science Fiction unterscheiden konnte. Zumindest grob, Star Wars macht es auch heute noch schwierig.

Wir erleben hier also die Entstehung einer neuen Erzählweise, nämlich die Prägung durch technischen Fortschritt. Verne gelingt es, wissenschaftliche Fakten kunstvoll in seine Geschichte einzuweben. Beispielhaft sei hier auf folgende Stelle verwiesen: Der Kanonenclub stellt eine Anfrage an eine Astronomische Gesellschaft um herauszufinden, wann und wie man eine Granate auf den Mond schießen könne. Die Antwort erfolgt per Brief, den Verne zum Teil der Geschichte macht. Dabei referiert er allerlei ballistische Berechnungen, die plausibel klingen und Fakten zum Mond (seine maximale und minimale Entfernung zur Erde, die Sarosperiode, etc.), die er für seine Geschichte recherchiert hat, denn sie stimmen mit unseren Erkenntnissen überein.

Darüber hinaus schildert Verne ausgiebig die Mondtopographie, wie sie damals bekannt ist, lässt die unterschiedlichen Theorien zum Leben auf dem Mond seiner Zeit zu Wort kommen und fügt alles zu einer Geschichte voller Streit und Neugierde zusammen. Das ist spannend, denn wir erleben hier tatsächlich die Geburt einer neuen Art zu schreiben: Die erzählerische Ausgestaltung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und ihre Verbindung mit einer blühenden Phantasie. Das macht die Erkenntnisse nicht trocken, sondern unterhaltsam. Und auch wenn ich Apo- und Perigäum kannte, die Sarosperiode kannte ich noch nicht. „Von der Erde zum Mond“ ist Literatur mit Erkenntniswert.

 

Fiction

Verne hat die Fakten, Verne hat aber auch erzählerisches Talent und gestaltet eine neue Art von Schelmen- und Abenteuer-Roman. Das Abenteuer ist natürlich das Unternehmen: Der Mond soll erobert werden und um dieses Ziel zu erreichen, müssen allerlei Schwierigkeiten überwunden werden. Da werden Löcher in Berge gegraben, monströse Kanonen gegossen, die Frage des Sprengpulvers erörtert und zu guter Letzt soll dann auch noch eine Expedition auf den Mond. Diese Expedition braucht Proviant und Sauerstoff.

Aber „Von der Erde zum Mond“ ist auch voller Humor und liebevollem Spott. Das Scharnier dabei dürfte die Gentlemen-Rivalität bilden. Ähnlich wie bei „Reise um die Erde in 80 Tagen“ gibt es auch hier eine Wette. Ein alter Rivale des Vorsitzenden des Kanonenclubs bietet eine mehrstufige Wette an, dass der Versuch scheitert, der Vorsitzende hält dagegen. Diese Rivalität unter Gentlemen sorgt für einige amüsante Verwicklungen der Geschichte.

Auch darüber hinaus weiß Verne mit einigen absurden Einfällen aufzuwarten. Im Streit um den günstigsten Ort für den Abschuss der Granate überbieten sich die Städte und Staaten gegenseitig, um erwählt zu werden, die großen Zeitungen ergreifen Partei und überziehen die jeweiligen Konkurrenten mit Häme und Überlegungen, wieso sie nicht als Abschussort geeignet seien. Verne treibt damit die Begeisterung ins Absurde und macht sicht zugleich über den Zeitungsjournalismus lustig.

Er ist dabei aber nie beißend oder ungerecht. Er schildert immer unbekümmert, auch als er sich dem Kanonenclub widmet. Dessen Mitglieder verfügen im Durchschnitt über zu wenige Gliedmaßen (das rechnet der Statistiker des Clubs sogar aus) und waren als Ballistiker im Bürgerkrieg aktiv. Sie interessieren sich aber nicht für die Zerstörungskraft ihrer Waffen, sondern bloß für die wissenschaftlichen Grundlagen. Sie glauben fest daran, dass ihre Forschungen unabhängig vom Zerstörungspotential einen Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt leisten und präsentieren deshalb auch ihre Versammlungshalle getäfelt mit den Läufen von Musketen und ihr Vorsitzender präsidiert in einem umgebauten Mörser.

 

Ein wenig Soziologie

Die Mischung machts, dass diese Geschichte unterhaltsam und lehrreich ist. Sie ist ausgefeilt, verzichtet aber auf übertriebene Ausschmückung, ist direkt erzählt, ohne Umwege, mehr an einem Tatsachenbericht als einem Roman orientiert. Dennoch lässt sie Raum für einige spannende Überlegungen zum Thema „Nationalcharakter“.

Unter „Nationalcharakter“ verstehe ich die Werte und Haltungen, die die Entstehungsgeschichte einer Nation prägen. Dies ist die Geschichte, die sich die Nation selbst gibt, um ihre Entstehung zu erklären. „Nationalcharakter“ ist notwendig ein sehr diffuses Konstrukt, weil jedes Individuum diesen „Nationalcharakter“ individuell adaptiert und seine Breitenwirkung damit sehr divers ist. Als Narrativ taugt die Vorstellung dennoch und damit als Erklärung zumindest für grobe Entwicklungen einer Gesellschaft.

Vernes Buch belegt diese Überlegungen ganz deutlich. Er schildert den amerikanischen Nationalcharakter. Seine Zutaten sind ein optimistischer Größenwahn, die Neugierde auf Erfindung und Fortschritt, Tatendrang und „Macherqualitäten“. In seiner Geschichte scheint immer wieder der Frontier-Mythos durch, eine Erzählung, die die Amerikaner bis heute tradieren: Der Zug nach Westen, Pioniergeist, vom Tellerwäscher zum Millionär. Für Verne scheint es selbstverständlich, dass es die Amerikaner sein müssten, die nun nach dem Mond greifen, nachdem sie in einem monumentalen Projekt ihren Kontinent (zumindest weitestgehend) von Ost nach West erschlossen hatten. Und es spricht für die Plausibilität dieser Vorstellung, dass es tatsächlich die Amerikaner waren, die schließlich den Mond erreichten (auch wenn die Rivalität mit der Sowjetunion da natürlich auch ihren Beitrag geleistet hat, in der Geschichte ist nichts einfach zu erklären).

Zugleich weist Verne auf etwas hin, was dem amerikanischen Nationalcharakter fehlt. Der Kanonenclub interessiert sich für den technischen Fortschritt, sie wollen etwas auf den Mond schießen, um zu zeigen, dass es machbar ist. Auf die Idee, einen Menschen auf den Mond zu schießen und dort auf Entdeckungsreise zu gehen, kommen sie nicht. Ihnen fehlte eine umfassende Neugierde. Dafür braucht es ein philosophisches Volk, kein technisches – deshalb stammt diese Idee von einem Franzosen.

Vernes Völkersoziologie ist pointiert formuliert eine Aufforderung, die besten Eigenschaften der Menschheit, die sich in den unterschiedlichen Staaten entwickeln, zusammenzubringen und sich so gegenseitig zu befördern. Zugleich weist er darauf hin, dass technische Innovation nicht alles ist. So ist es bis heute: Die Amerikaner sind Spitzenreiter in der technologischen Entwicklung, aber immer noch pragmatisch auf die Machbarkeit technischer Innovation fixiert. Sie betrachten Technologie als Lösung auch gesellschaftlicher Probleme. Gesellschaftliche Visionen bieten sie jenseits vom „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ nicht. Vielleicht bräuchten sie mal wieder einen philosophischen Kopf, um die unbegrenzten Möglichkeiten auch jedermann möglich zu machen.

 

Fazit

„Von der Erde zum Mond“ macht Spaß, weil es kurzweilig und mit viel Humor erzählt ist. Verne ergeht sich nicht in der Schilderung von Details, denn er will eine Geschichte erzählen und tut dies ausgesprochen unterhaltsam. Zugleich reflektiert er die gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit, die auch in der heutigen Zeit noch interessant sind. Meine Ausgabe wartet mit Holzstichen aus der ersten Gesamtausgabe von Vernes Werken auf, die das Buch bereichern. Man kann sich die geschilderten Szenen noch besser vorstellen.

Mit dem Ende der Geschichte markiert Verne bei aller Fiction den Anspruch, ein Science Autor zu sein. Während seine Figuren bis zuletzt vor Optimismus glühen, gelingt ihm ein so grandios glaubwürdiges und realistisches Ende, dass ich niemals darauf gekommen wäre. Umso mehr freue ich mich darauf, bei Gelegenheit auch die Fortsetzung „Reise um den Mond“ zu lesen.

 

31 Kommentare zu „Lasst uns einen Kanonenclub gründen! Besprechung: Jules Verne – Von der Erde zum Mond

  1. Ah das klingt so, als ob es was für mich sein könnte. Ich habe noch nie ein Jules Verne Buch gelesen, außer mal eine Kinderausgabe, die ich allerdings damals schrecklich langweilig fand. Vielleicht versuche ich es noch mal, mit deiner Rezension im Hinterkopf!

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    1. Kann es sein, dass du damals auch zur Zielgruppe gehört hast, d. h. Kind/Jugendlicher warst? Dann ist ist Verne in der Tat ein wenig langweilig. Um seinen Witz zu verstehen, braucht man schon einen Sinn für Ironie. Den habe ich persönlich erst so mit 15-16 entwickelt. Und jenseits seiner erzählerischen Brillanz und dem Witz warten seine Geschichten eben nicht mit Story-Raffinesse und allzu großen Überraschungen wie Plot Twists auf.
      Mit 12, 13 konnte ich mit Verne auch nichts anfangen, weder in den Jugendausgaben noch mit den Originalen (Auch den Kurier des Zaren fand ich schlimm, obwohl es da insgesamt doch spannend zugeht). Wie man auf die Idee kommen kann, Verne als Kinderliteratur zu verkaufen, verstehe ich nicht so ganz. Da ist H. G. Wells schon interessanter.

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  2. Beim Thema Kanone fällt mir spontan „Rausch“ von John Griesemer ein, ein Buch das mich sehr beeindruckt hat. Die Kanone spielt darin zwar nicht die Hauptrolle aber eine wichtige und um die Kanone herum gibt es einige wie ich finde sehr beklemmende Handlungsstränge.

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    1. Oh … Das Buch klingt wegen des Settings und dem Schiff genau nach meiner Kragenweite. Das merke ich mir mal.
      Zum Thema Kanonen empfehle ich aber nach wie vor den größten Klassiker der Kanonenliteratur: „Peterchens Mondfahrt“ 😉

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  3. Zeilenende, der Fleißbienerich, ist jetzt tatsächlich mit den sechs Büchern bereits durch. Gratulation. 🙂
    Jules Verne habe ich irgendwie als reinen Abenteuergeschichtenautor in Erinnerung. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass erstens das Erzählerische einen gewichtigen Anteil hat und ich zweitens das Gesellschaftliche in jugendlichem Leichtsinn völlig ausgeblendet habe. Leider habe ich bisher nie ein Lesetagebuch geführt. Beim Lesen deines Artikels ist mir erstmals der Gedanke gekommen, dass das eine gute Idee sein könnte. Einfach, damit man mit einigen Jahrzehnten Abstand die Eindrücke vergleichen könnte.

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    1. Dankeschön. Dieser Lesetagebuchgedanke war auch einer der Gründe, weshalb ich ursprünglich mal Buchbloggerei betrieben habe. Das ist eine durchaus sinnvolle Sache.
      Verne wird gerne zum Abenteuer-Autor gemacht. Daran „schuld“ sind wohl die Jugendausgaben. Und seine eher realistischen Geschichten (Der Kurier des Zaren, etc.) Aber er ist in der Tat mehr, das hat auch mich verblüfft. Gerade weil es eher kurze Erzählungen sind. Das Gesellschaftliche wie das Technische passiert nebenbei.
      Aber da steckt so viel mehr drin, dass es mich gepackt hat und ich über die Anschaffung einer Gesamtausgabe nachdenke.

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      1. Irgendwie besteht wohl auch eine gewisse Hemmschwelle gegenüber Dingen, die man bereits als Kind gelesen hat, weil man es innerlich gleichsam (manchmal sicher auch berechtigt) als „Kinderkram“ abgehakt hat. Stark gekürzte Jugendausgaben können aber sicher auch nachteilig sein – weil man das Gefühl bekommt: da ist gar nicht mehr.
        Der komplette Verne ist ja doch recht umfangreich. Vielleicht könnte als Start eine E-Buch Ausgabe eine gute Idee sein. Zum Stöbern und Kennenlernen. Und bei Wohlgefallen kannst du ja immer noch die Printausgabe auf einen Wunschzettel setzen.

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  4. Die Franzosen können es halt. 😀
    Hach, wird Zeit, dass ich mal all die Vernes lese, die ich noch nicht gelesen habe. Und das sind einige, und auch der gute Wells wartet hier mit ein paar Geschichten noch auf mich. So viele Bücher. Unfassbar, wie das, was sie sich vor groben 150 Jahren ausdachten, mittlerweile zu einem guten Teil Wirklichkeit wurde. Visionär trifft es, auch wenn ich mich frage: Wie lange wird es wohl bis Star Trek dauern?

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    1. Kommunikator und Tablets haben wir schon. Die Übersetzungsprogramme werden auch immer besser. Bald. 😉
      Aber ja. Verne ist ein für französische Verhältnisse untypisch guter Erzähler. 😛

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      1. Stimmt natürlich – und Apple zahlt keine Tantiemen, die Mistkerle. XD
        Ich meinte aber eigentlich den Warp-Antrieb, ich will endlich interstellar verreisen können! 😮

        Ts, du! Ich geb dir gleich, du! 😮 😛

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              1. Wird schon! 🙂
                Und die Umzugsvorbereitungen schauen auch sehr gut aus! Das kann nur klappen, und ich bin mir sicher, am Montag wirst du vor lauter Freude gar nicht mehr wissen, was du noch schreiben sollst, wetten? 😉

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