Es wäre einmal einen eigenen Beitrag wert, wie ich entscheide, ob ich ein Buch, einen Film oder eine Serie bespreche. Meistens basiert das nämlich auf Bauch-Gefühl. Und trotzdem kann es geschehen, dass aus der Lektüre oder dem Gesehenen ein Beitrag entsteht, so wie in diesem Fall. Freut euch deshalb heute auf einen Artikel, was uns Zeitreise-Literatur über unser Geschichts-Verständnis lehrt. Leider, weil ich gerade wahrscheinlich in einem kleinen Zimmer in Stuttgart hocke, ohne Brotbild.

Zeitreise-Geschichten sind ein beliebtes Thema in der Science Fiction, man denke an den anhaltenden Erfolg von Doctor Who, Michael Crichtons „Timeline“ oder an die großen Klassiker „Die Zeitmaschine“ und „Zurück in die Zukunft“. Es ist oft die Faszination, das Moderne oder Zukünftige mit dem Vergangenen zu kombinieren, um einen größtmöglichen Kontrast zwischen den Zeitreisenden und ihrer Umgebung zu erzeugen. Manchmal spielt auch der Wunsch eine Rolle, Science Fiction als Mittel der historischen Bildung zu verwenden. Und viele Autor*innen möchten auch gern einfach mit dem Großmutter-Paradoxon herumspielen.

Griff in die Geschichte

Was passiert, so fragt das Großmutter-Paradoxon in seinen verschiedenen Varianten, wenn ich mein eigener Vorfahre werde oder womöglich sogar die biologische Grundlage für meine eigene Zeugung verhindere, indem ich wahlweise Großmutter oder Großvater umbringe? Löse ich mich auf? Löse ich die ganze Zeit auf, weil ich eine Schleife erzeuge? Entsteht ein Parallel-Universum? Der geschätzte Florian Born hat auf Phanwelten die diversen Theorien zur Zeitreise auseinander genommen und aufgezeigt, dass sie zumindest in dem Sinne unmöglich sind, weil wir unsere Erinnerungen an die Zeitreise verlieren würden, selbst wenn wir mit einer Multiversen-Theorie arbeiten.

Unabhängig von der Frage, ob und inwiefern Zeitreisen dennoch möglich sein könnten (denn das ist ein physikalisches und womöglich psychologisches Problem), gewährt die Beschäftigung mit solchen Geschichten einen Einblick in die conditio humana, in den Umgang des Menschen mit der Vergangenheit.

 

Vergangenheit ist kein starres Konstrukt

Vergangenheit verändert sich nicht. Das ist eine Grundüberzeugung der Menschen wie auch der Geschichtswissenschaft. Was früher einmal geschehen ist, ist früher einmal geschehen und lässt sich nicht ändern. Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist es lediglich, die damaligen Geschehnisse adäquat zu beschreiben, ihre Ursachen und ihre Wirkungen darzulegen und womöglich Erkenntnisse daraus zu ziehen, die für unser gegenwärtiges Handeln von Nutzen sein könnten.

Spätestens mit George Orwells 1984 hat sich aber gezeigt, dass Vergangenheit aber sehr wohl manipulierbar ist. Über vieles, was in der Vergangenheit geschehen ist, sind wir nicht informiert, ebensowenig wie wir mit Sicherheit wissen, warum etwas geschehen ist. Unsere historischen Erkenntnisse sind nicht erst Interpretation, wenn wir beginnen, nach Ursache und Wirkung zu suchen. Sie sind schon allein deshalb Interpretation, weil wir nicht alle Daten zur Verfügung haben, die womöglich relevant sind. Und auch aus den Daten, die uns vorliegen, treffen wir eine Auswahl, die wir als relevant ansehen, während wir einige Informationen vernachlässigen. Selbst wenn in der Vergangenheit irgendetwas geschehen ist, Vergangenheit in unserem Sinne ist ein Konstrukt.

Lenin mit Trotzki und Kamenew (Original: RGASPI 393/1/205, Fotograf wahrscheinlich Grigorij Gol’dštejn.)

Geschichtsmanipulation ist es nicht erst, wenn wir historische Dokumente manipulieren, so wie in 1984 oder im Falle Stalins, der Trotzki nachträglich aus der Geschichte entfernen und aus Bildern herausretuschiert wissen wollte. Es ist bereits dann der Fall, wenn wir uns darauf festlegen, wer eigentlich historische Akteure sind. Da hat Bismarck das Deutsche Reich erfunden, vollkommen ohne Berücksichtigung, dass daran auch die übrigen deutschen Fürsten ihren Anteil hatten, die dem Plan erst einmal zustimmen mussten. Von den deutschen und französischen Soldaten, die in Sedan und an anderen Orten ihr Leben ließen, ganz zu schweigen. Und ich habe dabei noch nicht begonnen, die notorische Frage zu stellen, wie wir überhaupt dazu kommen, preußische Soldaten vor der Reichsgründung als deutsche Soldaten zu bezeichnen.

Lenin ohne Trotzki und Kamenew (Original publiziert: A.I. Petrov (Hg.), V.I. Lenin. Al’bom fotografij [V.I. Lenin. Ein Foto-Album], IMEL, Moskau 1974, Abb. 111.), vgl. http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2010/id%3D4745

Geschichte ist ein Ort voller Manipulationen. Und Stalin seine Geschichtsmanipulation vorzuwerfen zeugt seinerseits von einer gewissen Geschichtsvergessenheit. Bei den alten Römern war es guter Brauch, ungeliebte Staatsmänner posthum mit der Damnatio Memoriae zu ehren. Das war kurz gesagt der Versuch, die Erinnerung an sie aus den Geschichtsbüchern zu entfernen, meist sehr handfest mit Hammer und Meißel. Der Gedanke dahinter: Woran man sich nicht erinnern kann, das ist auch nicht geschehen. Umgekehrt gilt: Woran man sich erinnern kann, das ist geschehen. Der Papst darf sich deshalb bis heute am Vatikanstaat erfreuen, der nach aktuellem Stand historischer Forschung nicht auf der Konstantinischen Schenkung beruht, sondern auf der Erfindung der Konstantinischen Schenkung.

Geschichte als „das, was wirklich geschehen ist“, existiert damit nur als Interpretationsmuster in unseren Köpfen. In Wirklichkeit ist die Vergangenheit ein Feld, das hohen Fluktuationen unterworfen ist. Unsere Geschichte passt sich immer unseren aktuellen Bedürfnissen an.

 

Wendepunkte

Das lädt zu erstaunlichen Überlegungen ein, die Poul Anderson in seinen Geschichten um die Zeitpatrouille mehr oder weniger explizit anstellt. Der explizite Punkt, den Anderson in seinen Geschichten macht, ist seine Lösung des „Großmutter-Paradoxons“. Er weist darauf hin, dass unsere Gene nicht das Produkt der individuellen Vereinigung zweier Menschen sind, sondern die Summe der genetischen Entwicklung einer ganzen Reihe von Entwicklungen. Unsere individuelle DNA ist nur eine spezifische Variante des Genpools der gesamten Population. Und dieser Genpool ist so stabil, dass die Entfernung eines Verwandten aus der Vergangenheit nicht zu unserer sofortigen Auflösung führen wird, weil unsere individuelle DNA-Kombination nicht unmöglich wird. Die Tatsache, dass wir plötzlich keinen Großvater mehr haben, bleibt mit seinem Tod bestehen, aber unsere Existenz wird dadurch nicht notwenigerweise negiert. Dies wird umso deutlicher, je weiter unser konkreter Ahne von uns weg ist, den wir aus Versehen oder mit Absicht töten. Damit löst er das individuelle Paradoxon zwar nicht auf, aber er hebt es auf eine andere Ebene und zeigt, dass es nur begrenzt Relevanz für unsere Geschichte hat.

Dieses Beharren auf Strukturen statt Individuen für den Fortgang der Geschichte führt Anderson zu einer zweiten interessanten Überlegung. Was für den Genpool der menschlichen Population gilt, muss doch auch für Ideen gelten. Er widerspricht damit der Vorstellung, dass große Männer große Geschichte machen, ein typisches Narrativ der Geschichswissenschaft. Ihm verdanken wir Vorstellungen wie die, dass Hitler der Verführer des Deutschen Volkes war, Bismarck das Deutsche Reich gegründet hat und Papst Urban II allein Schuld an der ganzen Kreuzzugsmisere hätte.

Es ist sogar recht zweifelhaft, ob der gute Herr Urban, der nach seiner Karriere als Papst nun alljährlich den Eurovision Song Contest für das deutsche Publikum kommentiert, so aussieht wie abgebildet (Quelle)

Der Gegenentwurf der Sozialgeschichte, dass es die Strukturen seien, die beispielsweise die französische Revolution, die Industrialisierung oder den Nationalsozialismus geboren hätten, ist Grundlage für Andersons Geschichtsbild. Seiner Vorstellung nach herrscht zu allen Zeiten ein gewisses Milieu an Gedanken vor: Eine nicht verarbeitete Niederlage, eine starke Polarisierung der politischen Öffentlichkeit, sich daraus ergebender mangelnder Kooperationswille der politischen Akteure, eine Wirtschaftskrise und gesellschaftsfähiger Antisemitismus in allen Bevölkerungsgruppen sind Schuld am Entstehen und Erfolg des Nationalsozialismus. Und wenn man in die Vergangenheit reiste, um Hitler zu erschießen, könnte man die Shoa deshalb nicht verhindern: Ein anderer würde seinen Platz einnehmen (gleich ob er Goebbels, Strasser oder sonstwie hieße).

Gleichzeitig macht es sich Anderson nicht zu leicht. Auch wenn die Strukturen mächtig sind, kann es an bestimmten Punkten der Geschichte doch auf das Individuum ankommen. Doctor Who zieht sich in solchen Punkten elegant aus der Affäre, indem der Doctor erklärt, hier sei ein neuralgischer Punkt der Geschichte, den er nicht ändern könne, ohne unendliches Chaos zu stiften. Anderson dramatisiert weniger, aber er weist darauf hin, dass in gewissen historischen Konstellationen nicht das einzelne Individuum über den weiteren Verlauf der Geschichte bestimmt, sondern es auf den Typus des Individuums ankommt (der Lautsprecher mit ausgeprägtem Judenhass und albernem Bart), aber das konkrete Individuum notwendig ist, um die Geschichte so verlaufen zu lassen, wie sie verläuft. Ohne Hitler (oder eine ähnliche Figur) kein Nationalsozialismus und keine Shoa, aber es ist hochgeradig unwahrscheinlich, dass sich kein zweites solches Individuum fände, denn die Population ist groß. In der Zeit wird sich keine alternative Entwicklung bieten. Das macht Zeitreisen so gefährlich. Wenn allerdings Zeitreisende an der Vergangenheit herummanipulieren und sich selbst an die entscheidende Stelle setzen, ließe sich auch die Zukunft ändern.

 

Geschichtsdeterminismus

Anderson vertritt damit ein Bild, dass unsere Vergangenheit zwangsläufig so ablaufen musste, wie sie abgelaufen ist. Ist sie einmal geschehen, lässt sie sich nicht mehr verändern (was allerdings nicht heißt, dass man sie nicht anders interpretieren kann). Seine Geschichten basieren zudem auf der Hegelschen Vorstellung eines Fortschritts in der Geschichte: Im Verlauf der Zeit manifestiert sich ein Weltgeist, an dessen Ende ein aufgeklärtes Zeitalter steht. Hegel hat damit die Vorlage für den Historischen Materialismus geliefert, jene kommunistische Geschichtstheorie, die erklärt, dass die Geschichte ein Ablauf von Konflikten ist: Herren und Sklaven, Feudalherren und Knechte, Kapitalisten und Arbeiter, eine Linie, die durch die Diktatur des Proletariats überwunden werden soll und im Kommunismus, der Überwindung aller ökonomischen Konflikte gipfeln wird.

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Poul Anderson: Die Chroniken der Zeitpatrouille. 5. Auflage, München 2001.

Anderson beschreibt die Zukunft seiner Menschheit ähnlich positiv. Es gibt zwar auch zukünftige dunkle Flecken in der Geschichte (Wie sonst könnte es zeitreisende Schurken geben?) aber am Ende der Geschichte stehen die Danellier, eine Art Homo Superior, graue Eminenzen, die über die Einhaltung des Geschichtsverlaufs wachen, damit alles seinen vorgesehenen Gang gehen kann.

Wann immer die zeitreisenden Schurken die Geschichte manipulieren, entsteht Chaos und die „alternativen“ Zukünfte sind immer schlechter als die „realen“. Anderson vertritt in seinen Geschichten damit das hegelsche Weltbild, dass selbst „Rückschläge“ der Geschichte ihre Berechtigung haben, weil auch sie Grundlage für eine bessere Zukunft sind, die zwangsläufig kommen muss, wenn man die Geschichte nur ihren geordneten Gang gehen lässt.

Damit rennt Anderson aber voll in eine Determinismus-Falle. Mit der Erfindung der Zeitreise werden wir als Gegenwartsmenschen bloß zu historischen Akteuren. Wir sind selbst bloß Trägerfiguren bestimmter historischer Milieus. Wir können gar nicht anders handeln, als wir handeln können, weil unsere Zukunft bereits feststeht, sie gipfelt in der Entwicklung hin zu den Danelliern – oder allgemein besprochen in eine glänzende Zukunft. Andersons Pointe ist: Wir können uns nicht gegen die Geschichte auflehnen, wir sind Opfer unserer Vergangenheit, unserer Gegenwart und unserer Zukunft gleichermaßen.

 

Individualität zwischen Geschichte und Zukunft

Diesen Befund kann man negativ sehen. Welchen Gestaltungsspielraum haben wir denn als handelnde Individuen, wenn wir von drei Seiten gleichermaßen in die Zange genommen werden? Man kann ihn aber auch positiv sehen: Da wir als Akteure der Geschichte die Zukunft nicht genau kennen, bleiben wir frei, ohne dem Irrtum eines fundamentalistischen Individualismus aufzusitzen, dass ein einzelner Mensch die Welt verändern kann. Die Vorstellung ist nämlich einerseits verlockend, andererseits bedeutet sie eine Überforderung: Wenn jede unserer Handlungen das Potential hat, Geschichte zu schreiben, sind wir für alle Konsequenzen unseres Handelns in der Zukunft verantwortlich, obwohl wir sie von unserer Position in der Gegenwart nicht überblicken können. Wir können uns auf die bequeme Position zurückziehen, dass wir auch nur Opfer unserer jeweiligen Umstände uns Milieus sind.

Dennoch, die Tatsache, dass wir als Nicht-Zeitreisende die Geschichte „wie sie wirklich war“ nicht unmittelbar zugänglich ist, sondern uns nur in Form von Interpretation der Vergangenheit offen steht, gemahnt uns dennoch, Verantwortung zu übernehmen, denn über die konkrete Genesis unserer eigenen historischen Position wissen wir ebenso wenig wie über unsere Zukunft. Wie es dazu gekommen ist, dass wir uns an einer Stelle der Geschichte befinden, wissen wir nicht, wir stellen nur historische Mutmaßungen an. Damit entbindet uns der Geschichtsdeterminismus nicht von unserer Pflicht, trotzdem Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen.

8 Kommentare zu „Wie Geschichte funktioniert

  1. Ach, DER Urban ist das, ja!? Vom Kreuzzug zum Eurovision Song Contest! Ist das ein Fortschritt, ich weiß nicht…?! 😉 Nun ja, vielleicht doch ein kleiner… 🙂

    Spaß beiseite: Sehr interessante, lesenswerte Gedanken am Morgen mit einem schönen Schlusssatz!

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  2. Sehr spannendes Thema und – wie gewohnt – sehr interessant aufbereitet, mit philosophischen und geschichtlichen Überlegungen und Details angereichtert. Es macht neugierig auf den Roman selbst, ebenso wie auf Lektüre über Sozialgeschichte und Hegels Ideen;)
    Mich würde jetzt noch interessieren, ob alle deine analogen Bücher Kabelanschlüsse besitzen oder benötigen? (siehe Foto des Buches) Ist das eine neue, noch weitgehend unbekannte Variante der e-books? 🙂 🙂

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    1. Naja. Sagen wir es so: Da der Roman eine Sammlung von Geschichten ist, sollte man ihn häppchenweise genießen. Sozialgeschichtliche Abhandlungen hingegen sind meistens eine spannende Sache. Wobei ich da mal gucken müsste, ob es weniger statistisch geht als bei Wehler. Von Hegel rate ich hingegen ab, wenn dir deine geistige Gesundheit lieb ist. Dann lieber ein Buch über Hegel. 😊
      Achso … Und nein: Das ist ein frühes ebook: Da passte immer nur ein Buch auf den Reader und das ist fest im Speicher integriert. 😉

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