Heute: Der Brexit und die Demokratie.

„Zeilenende?“

„Ja, Seamus?“

„Wird Zeit, dass wir was zum Brexit sagen, findest du nicht?“

„Joa.“

„Warum behandeln wir die Themen eigentlich nie proaktiv?“

„Proaktiv? Geht’s dir zu gut? Die Eule der Minerva beginnt erst …“

Seamus quietscht entsetzt.

„Zeilenende, Hegel? Echt jetzt? DU? Deine Pilgerreise ist dir wohl nicht bekommen. Was ist mit Aufklärung als Ausgang des Menschen? Da wird was getan!“

„Und als nächstes willst du von mir, dass ich die Philosophie vom Kopf auf die Füße stelle? Nein, mein Freund. Aufgabe der Philosophie ist nicht, die Verhältnisse zu ändern, sondern sie zu beschreiben, damit sie sich ändern.“

„Meine Damen und Herren, Zeilenende der Salonbolschewist. Immer nur reden, aber vor der Weltrevolution den Kopf einziehen. Leute wie du sind Schuld am Brexit.“

„Wie ich? Wieso?“

„Du hättest den Leuten von Anfang an sagen können, dass Demokratie mit Volksabstimmungen nichts zu tun hat.“

„Aber Demokratie ist doch, wenn alle Macht vom Volk ausgeht.“

seamus29

„Ja. Vom Volk. Von einer Denkfigur. Das Volk ist nicht die Menge aller Individuen, sondern der vereinigte Wille der Bevölkerung als eine Figur.“

„Du willst also sagen, dass in der Demokratie nicht die Bürger über die Politik entscheiden sollen, sondern … das Volk?“

„Genau. In festgelegten Verfahren.“

„Aber der Volksentscheid ist doch ein festgelegtes Verfahren.“

„Ja, eines, wo jeder einzelne Bürger nach seiner individuellen Befindlichkeit befragt wird. Und wenn die Befindlichkeit des Einzelnen ist, dass der Andere keinen Schleier tragen darf und das genug Einzelbefindlichkeiten ist, dann darf man mir den Schleier vom Gesicht reißen?“

„Das ist doch eine Frage von Minderheitenrechten.“

„Siehst du? Du willst auch nicht alle Macht von den Bürgern haben. Wenn ihr die Mehrheit seid, die nicht will, dass ich den Schleier trage, dann dürft ihr mir per Volksentscheid in meine Freiheit der Kleiderwahl eingreifen.“

„Aber das hat doch nichts mit dem Brexit zu tun. Da ging es doch um Fragen der Verfasstheit des Staates. Ob er sich national oder supranational ausrichtet.“

„Meinst du? Wenn das Volk also schon zu blöd ist, Minderheitenrechte zu schützen, dann sollte man ihm erlauben, an der Verfassung des Staates rumzupfuschen?“

„Die Briten haben doch gar keine Verfassung.“

„Keine geschriebene, aber jeder Staat hat eine Verfasstheit und damit eine Verfassung.“

„Okay. Und die Verfassung regelt das Leben der Menschen. Warum dürfen sie darüber nicht mitreden?“

„Weil die Verfassung für alle gleichermaßen gilt und die Verfassung damit immer irgendwie auf Kompromissen beruhen muss und man mit ihr nicht jeden beliebigen Blödsinn treiben darf. Wo kommen wir denn da hin.“

„Aber werden dadurch nicht Freiheitsrechte eingeschränkt?“

„Was denn für Freiheitsrechte. Zeilenende, willst du ernsthaft behaupten, dass jeder einzelne Bürger das Recht haben soll, so zu rechten und zu leben, wie es ihm gefällt, ohne Blick auf die Konsequenzen und den Staat so zu verwalten, wie es ihm gerade gefällt? Ich habe heute Bauchschmerzen und deshalb verlange ich das Recht, meinen Nachbarn zu verhauen, weil der mir mit seiner Anwesenheit und seinem Kopftuch Bauchschmerzen macht. Bei solcher Willkür gibt es nicht mehr eine Verfassung, dann macht sich jeder Depp seine eigene.“

„Wenn das alle wollen? Wo soll denn sonst die Verfassung herkommen?“

„Es ist doch keine Frage, wo sie herkommt. Sie ist da und damit hat sie Gültigkeit.“

„Aber wenn die Verfassung blöd ist, braucht es doch Entscheider. Und wo soll denn dein Volkswille herkommen? So Sitten und Gebräuche des Volkes, wie sie nun einmal sind? Das ist doch auch Blödsinn. Wir haben doch nichts anderes als den faktischen Willen der Einzelnen.“

„So. Und du bist also der Meinung, wenn sich nur genügend Leute zusammenfinden, um die Meinungsfreiheit einzuschränken, dass ich nicht mehr mit Platon kritisieren darf, dann muss ich meine Schnauze halten?“

„Platon? Kommst du mir jetzt echt mit dem demokratiefeindlichen Griechen?“

„Er hat doch recht! In deinem System braucht es nur solche Blender wie Boris Johnson braucht, die das Volk belügen und von Blödsinn überzeugen und schwupps treffen die Leute eine Entscheidung, die vielleicht dem Tyrannen Johnson nützt, aber dein ach so geliebtes System abschafft, weil es eine Blaupause liefert für die Abschaffung von Minderheitenrechte.“

„Aber wer soll denn sonst entscheiden? Woher kommt denn dein Gemeinwille? Du versuchst, mich mit Platon und Rousseau in die Pfanne zu hauen, aber hast kein eigenes Argument. Wir haben nur den Willen der Mehrheit als erkennbares Instrument.“

„Philosophenkönige, Zeilenende! Die Herrschaft der Philosophen ist allemal besser als die Tyrannis, den Launen eines Einzelnen unterworfen zu sein, der den Mob nach Belieben anheizt. Denn wenn das passiert, haben wir kein System von Schutzmechanismen mehr gegen die Willkür der Masse, dann haben wir nur noch Willkür des Einzelnen, der die Masse kontrolliert. Demokratie statt Politie.“

Zum Weiterlesen:

Platons Kritik an der Willkür der demokratischen Herrschaft findet sich in der Politeia, VIII. Buch, ab 557a. 

Die Formen der Volksherrschaft, Politie als gute Herrschaft der Mehrheit und Demokratie als schlechte Form, entstammt Aristoteles, der die verschiedenen Staatsformen im Dritten Buch der Politik (leider nur in englischer Fassung online) diskutiert.

Die Unterscheidung von Volkswille und Einzelwille entstammt Rousseau, der Volonté Générale und volonté de tous unterscheidet. Einschlägig für die Unterscheidung sind das sechste und das achte Kapitel des ersten Buches, sowie das dritte Kapitel des zweiten Buches „Vom Gesellschaftsvertrag“.

20 Kommentare zu „Auf eine Zigarette mit Seamus O’Bär (4)

  1. Gerade im Moment ist es noch ein wenig zu früh, um den Text voll und ganz verstehen zu können. Aber das kann ja noch besser werden… 😉

    (Der 18+ Stunden-Tag hängt mir noch nach…)

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    1. Dann entspanne dich erstmal … 🙂
      Aber so ganz unter uns: Der Artikel hat das ein oder andere Argumentenloch, das ist breiter als der Ärmelkanal. Das ist aber so gewollt. Weil es zu dem Thema SO VIEL zu sagen gäbe.

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      1. Eindeutig! Also: Dass es so viel zu sagen gäbe. Egal wie man es anstellt, Argumentationslücken werden immer bleiben. Dennoch lustig zu lesen, nur war mein Hirn frühmorgens noch nicht in der Lage, alle Informationen zu verarbeiten… 😴

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  2. Du hättest Seasmus als neuen Premierminister vorschlagen sollen… Vielleicht hätte er dann eine Lösung für den geteilten Volkswillen gefunden. 😀
    Aber im Ernst: Woher weiß Seasmus das alles so genau? Studiert er neben seinen Dialogen mit Dir Philosophie? 😎

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      1. Er hat was davon gebrummt, dass er schon Professor für Philosophie war, als Heraklit noch nicht einmal darüber nachgedacht hat, in irgendwelche Flüsse zu springen. *kopfschüttel*

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    1. Seamus heckt ganz andere Dinge aus … Außerdem wollte er nicht nach Downing Street No. 10, weil (Zitat des Bären:) „Die blöde Katze schon da ist.“
      Was Seamus‘ Bildung angeht, ist er einfach ein Bär von großem Verstand, der mich vor Neid erblassen lässt. Ich musste für meine Redebeiträge in dem Gespräch das ein oder andere nachlesen … Der Kerl schüttelt das aus dem Ärmel.

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        1. Kommt drauf an, für welche Studiengänge ihr euch entscheidet. Seamus brummelte etwas davon, dass er gern mal eine BWL- oder Psychologie-Klausur schreiben würde, um den Sinn der Fragestellungen ausgiebig zu hinterfragen. Ich glaube, der Bär hat Vorurteile. ^^

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  3. Offen gesagt bin ich diesem Mehrheit-der-Bürger-entscheidet Kram gegenüber schon sehr skeptisch. Denn es gibt ganz eindeutig Schwachstellen. Mit ausgiebiger Propaganda lassen sich durchaus Menschen überreden, etwas zu wollen, was sie eigentlich nicht wollen würden, wenn sie wirklich wüssten, was sie da wollen. Für die Politstrategen lautet die Frage doch oft: Wie bringe ich eine Mehrheit der Bürger dazu, FÜR etwas zu stimmen, was eigentlich nur eine Minderheit wollen würde. Und ein Problem dieser Entwederoder-Abstimmungen ist auch, dass sie zu Gräben führt. Die einen bekommen alles – die anderen nichts. In Großbritannien wird sich das möglicherweise rächen – Stichwort: Schottland.
    In einer idealen Welt gäbe es einen weisen Herrscher, der die Interessen aller angemessen berücksichtigt. In der Welt in der wir leben (selbst, wenn wir uns mental in einer ganz anderen Welt aufhalten) hatte dieses Herrschertum bisher allerdings eine leidige Tendenz verteufelt schlecht zu funktionieren.

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    1. Ich kann es durchaus nachvollziehen, dass gerade solch fundamentalen Fragen das Zusammenleben betreffend per Volksentscheid geregelt werden sollten. Eine neue Lebensmittelkennzeichnungsverordnung erfordert zu viel Detailwissen und ist für das Leben auch viel zu uninteressant, als dass man daraus eine Volksabstimmung machen kann. Und die Parlamentswahlen sind für den Willensausdruck auch ein ungenügendes Mittel. Für den linken Europagegner, der sonst treuer Labour-Wähler ist (weil Labour ja eine linke Pa *hust hust hust*) ergibt sich doch eine ganz klare Dilemma-Situation: Will ich mit meiner Stimme das linke Projekt verraten oder meinen Nationalismus? Auch wenn jede Wahl ein Kompromiss ist, das ist schon ein sehr krasser Konflikt.
      Das Problem ist bei solch großen Entscheidungen aber oft auch die Fragestellung. Raus aus Europa oder drinbleiben, das schließt eine Vielzahl von bedenkenswerten Alternativen aus. Großbritannien in der EU, das sich dafür einsetzt, dass die EU ihre Mechanismen überdenkt, wäre ebenso eine Alternative gewesen wie: „Großbritannien soll in der EU bleiben und bitte den Status Quo erhalten“ oder „Großbritannien soll darauf hinarbeiten, ein Bundesstaat der EU zu werden.“ Die Reduktion einer komplexen Lage auf ein schlichtes Kreuz ist der Teufel an der Sache.

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      1. Genau das ist der Punkt. Bei fundamentalen Fragen ist der Volksentscheid absolut angebracht. Aber genau weil die Frage fundamental ist, ist es fatal, sie auf eine so drastische Weise zu stellen. Die von dir vorgeschlagenen Alternativen wären da wesentlich konstruktiver. Sowohl aus britischer Sicht, als auch für die EU.
        Die EU hat ja ein ganz beträchtliches Verbesserungspotenzial. Und das wird auch so bleiben. Baustellen wird es immer geben. Aber ich finde es bedenklich, wenn man die EU so leichtfertig einfach abschreiben will. (So im Stil eines trotzigen Kindes: Buhuuu, Papi hat mir den neuesten Gameboy nicht gekauft. Ich will einen neuen Papi!) Ich finde, dass der Verein in verschiedener Hinsicht ganz gut funktioniert. Gerade auch, wenn man bedenkt, was für Staaten hier unter einem Dach leben. Staaten, die vor nicht allzu langer Zeit dem Warschauer Pakt angehörten (bzw. sogar widerstrebend Teil der Sowjetunion waren), Staaten, die dem im Krieg zerborstenen Jugoslawien angehörten. Selbst die Trennungslinie im Tirol ist durch die EU-Zugehörigkeit von A und I etwas weniger extrem.
        Die Parlamentswahlen allein sind m.E. auch deshalb ungenügend, weil es immer eine nicht unbeträchtliche Anzahl Wähler gibt, die den Regierenden einfach aus Unzufriedenheit eins auswischen wollen. Und wenn die Bürger sonst nie um ihre Meinung gefragt werden, nutzen sie eben die einzige Gelegenheit. Aber furchtbar konstruktiv ist das letzten Endes nicht.

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  4. Ich bin ein Seamus-Fan. Neulich hatten wir hier auch die Diskussion, was von Volksentscheiden zu halten ist und ich bin bei dieser Form, wie sie bei den Briten stattgefunden hat, ganz entschieden gegen Volksentscheide. Wenn jemand aus einer Laune heraus, uninformiert und ohne die Tragweite des Gewählten begreifen zu können, zu einer solch weitreichenden Entscheidung aktiv beitragen kann, führt das für mich aktuell zur Herrschaft der Dummen. Wobei ich bei einer anderen Regelung schon gewillter wäre, einen Volksentscheid gelten zu lassen. Bei einer Zustimmung von 75% aller Wahlberechtigten beispielsweise zu einem bestimmten Thema. Dann können solche Geschichten wie der Brexit ohne Weiteres gar nicht passieren, weil die Wahlbeteiligung höher hätte sein und der Unterschied zwischen „leave“ und „remain“ größer hätte sein müssen. Wie das jetzt in eine Philosophenschule passt, weiß ich leider nicht. Aber ich freu mich auch immer darüber, wenn Seamus ein Gastspiel gibt 🙂

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    1. „Herrschaft der Dummen“ ist ziemlich nah dran an dem, was Aristoteles „Demokratie“ nennt und in der antiken Philosophie auch als „Ochlokratie“ (Pöbelherrschaft) diskutiert wird. Auch wenn die antike Philosophie das Problem des uninformierten Bürgers nicht kannte, weil die ganzen Unqualifizierten (Sklaven, Handwerker, Fremde, Kinder, Frauen … Ach, die antike Philosophie kennt so viele Vorurteile) zumindest in der „funktionierenden Polis“ eh nicht mitreden konnten.
      Letztlich ist es so, dass sich die Politische Philosophie weniger für Verfahren interessiert als für Strukturen. Der große Demokratiefeind Platon ist in meinen Augen kein Demokratiefeind. Ich denke, ihm könnte ein Modell, wie von dir vorgeschlagen, sogar gefallen. Aber zu dem Thema politische Weisheit habe ich auch noch was in der Mache.

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