Das Land lebt. Das Land als Gegensatz zur Stadt. Und Leben im ökonomischen Sinne. Verständlicher wäre wahrscheinlich „Die Nicht-Stadt prosperiert.“ Allerdings klingt das nur wenig poetisch, es klingt nicht einmal prosaisch. Es klingt wie ein Satz, den ich in einer Hausarbeit schreiben könnte. Am Faktum lässt sich dennoch nicht rütteln. Ich habe zwar nicht mein ganzes Leben in diesem Dorf verbracht, aber seit meinem siebten Lebensjahr verfolge ich, mal von nah, mal von fern, seine Entwicklung. Und es prosperiert. Oder die Leute hier werden immer hungriger.
Damals gab es im Ort drei Supermärkte, vier Bäckereien und zwei Metzgereien. Außerdem eine Buchhandlung, zwei Elektrohandlungen, ein Mode- und ein Schuhgeschäft. Während einer dieser Supermärkte irgendwann zur Getränkefiliale eines der anderen Supermärkte wurde, eröffnete ein neuer Supermarkt in einem Neubau. Dieser wurde bald zu klein, sodass ein weiterer Neubau entstand. Für einen der beiden bestehenden Supermärkte wurde trotz Auslagerung der Getränke der Raum ebenfalls knapp. Ein Neubau musste her. Supermarkt und Getränkemarkt sind nun wieder in einem Gebäude.
Ein Metzger schloss, ein neuer eröffnete. Die Betreiber der Bäckereien wechselten. Die beiden Bäckerei-Familienbetriebe, versteckt in Wohngebieten, existieren nicht mehr. Aber es kamen neue Bäcker. Und neue Geschäfte. Derzeitiger Stand: Drei Supermärkte mit erheblich größerer Ladenfläche als damals, drei Bäckereien, zwei Metzgereien. Neu hinzu gekommen außerdem sind ein Getränkefilialist, ein Drogeriemarkt, ein Haushaltswaren-Discounter, Bekleidungs- und Tierfutterhändler, ein PC-Händler, ein Eiscafe, eine Fotografin. Auch Buchhandlung, Mode- und Schuhgeschäft sowie die beiden Elektrohandlungen gibt es noch. Andere Geschäfte kamen und gingen oder bestehen immer noch. So wie das im Einzelhandel nun einmal ist.
Nun steht auch für den dritten Supermarkt eine Veränderung an, auch er möchte sich vergrößern. Nicht durch Neubau, sondern am bestehenden Standort. Außerdem soll dort ein weiterer Bäcker angesiedelt werden, ein Mode- und ein Schuhfilialist. Und es gibt Pläne, einen vierten Supermarkt anzusiedeln, mit einer Drogerie, einem Schuh- und einem Modegeschäft. Das Muster ist bekannt.
Das Land lebt. Das Land verändert sich. Es besteht kein Grund zur Klage. Natürlich, auch der ländliche Raum zentralisiert sich. Der große Ort profitiert, die umliegenden Dörfer, in denen es vor fünfzig oder auch dreißig Jahren noch eine Bäckerei oder einen Metzger mit kleinem Angebot weiterer Lebensmittel gab, verschwindet. Man könnte auch darüber klagen, dass die Vielfalt geht, weil überall der Fünfklang entsteht: Supermarkt, Drogerie, Mode- und Schuhhaus, Bäckerei. Doch gehe ich die Hauptstraße entlang, sehe ich Vielfalt, die sich seit Jahrzehnten hält, die hübsche Schaufenster gestaltet, deren Rahmen neu aussehen, dessen Innenleben frisch renoviert strahlt und zahlreiche Kunden empfängt, die anschließend zufrieden das nächste Ladenlokal betreten.
Welche Opfer werden dafür erbracht? Das Supermarkt-Areal grenzt an einen ehemaligen Bauernhof. Eine große Wiese, als Bauland ausgezeichnet, lockt. Davor eine Scheune und ein großes Haus, vielleicht 100 Jahre alt. Solides Fachwerk, in den 70ern verkleidet mit Betonplatten, bröselig, grau, trist. Kein schöner Anblick. Und der Erweiterung im Weg. Generationen von Autofahrern haben sich über dieses Haus beschwert, weil es den Blick versperrt, wenn man vom Parkplatz des Supermarktes auf die Straße abbiegen möchte. Jedes Mal gibt es einen Moment des Glücksspiels: Wenn jetzt jemand kommt, war der günstige Einkauf umsonst. Dann brauche ich ein neues Auto.
Dieses Haus, hässlich und im Weg … Und dennoch Teil des Ortes. Es stand nun einmal da. Und das soll jetzt so einfach verschwinden? Jahrelang hat der Besitzer sich geweigert zu verkaufen. Dann doch. Die Gerüchte sagen, es müsste gründlich modernisiert werden. Hohe Kosten. Warum investieren, wenn jemand so sehr am Grundstück interessiert ist? Auch der Besitzer hat das Grundstück gekauft, es ist kein Stück Familiengeschichte.
Eines Tages stand der Bagger im Garten. Nicht mit einer Abrissbirne, auch wenn ich es mir gewünscht hätte. Es ist ein erhabener Anblick roher Gewalt, wenn die Gesetze der Physik ihre Wirkung zeitigen und die Kugel ins Gebäude schlägt. Ein Abriss wie ein Actionfilm: Laut und spektakulär. Stattdessen ein Bagger mit einer Zange und ein Abriss wie ein Märchen. Die Zange greift eine Ecke des Daches und fährt nach oben. Der Bagger, das ist kein Bagger. Der Bagger ist der Riese aus dem Märchen, der das Dach des kleinen Menschenhäuschens anhebt, um nachzusehen wer darin wohnt.
Verkehrung der Maßstäbe. Das Haus hatte drei Etagen, zwei vollständige und eine Dachetage. Und einen Keller, der zu einem Viertel über dem Erdboden lag. Ein riesiges Haus. Und doch fällt es dem Bagger so leicht. Spielerisch hebt und hebt sich das Dach, reißt, fällt neben das Haus. Wenn der Bauzaun verschwunden ist und das schwere Gerät abrückt, wird sich niemand mehr ärgern, dass er nicht um das Haus herumsehen kann. In ein paar Jahren werden sich nur noch ältere Menschen an das Haus erinnern. Sie sitzen dann zusammen im Café der neuen Bäckerei, schlürfen Filterkaffee und essen Streuselkuchen. Dann wird einer sagen: Weißt du noch, da stand früher das Haus. Und jedes Mal, wenn man vom Parkplatz auf die Straße fuhr, gab es diesen bangen Moment, ob wohl gleich ein Unfall geschähe.
Und womöglich schiebt genau in diesem Moment ein ebenfalls nicht mehr junger Mann seinen Einkaufswagen am Tisch der streuselkuchenessenden Menschen vorbei, hört das und lächelt. Das Land lebt. Weil Leben Veränderung ist. Und zugleich die Bewahrung des Bestehenden. Und sei es in der Erinnerung.

( schluchz )
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Echt? So traurig? Da hat der Autor seine Intention verfehlt. 😀
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Geht schon wieder 😉
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Dann bin ich ja beruhigt. Ich bin nämlich froh, dass das Haus weg ist. Ich habe immer Angst um die Familienkutsche. *gg*
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Da macht es wirklich Sinn 😉
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Die Leute werden immer hungriger. Und einige sorgen dafür, dass sie satt werden – bis wieder andere es vielleicht satt haben…
Sehr schöner Raum-Zeit-Rundgang. Dein Erzählstil spiegelt, finde ich, sehr gut dieses ‚mal von nah, mal von fern‘. Persönliche Färbung und dennoch eine gewisse Distanz – das hält sich die Waage. Keine unpersönlich-staubtrockene Nüchternheit – aber auch nicht subjektivitätstriefend. Mit einem Blick fürs große Ganze – und für Details.
Danke fürs Mitnehmen. 🙂
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Als Pedant lege ich Wert darauf, dass ich den Blick für „viele Details“ habe. Aber es war eine Freude, mit dir gemeinsam zu spazieren. Sollten wir wiederholen. 🙂
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Absolut. Da bin ich sofort gerne wieder mit dabei. 🙂
Ein Blick für Details gepaart mit einem Sinn für den Über-Blick – das ist eine sehr nützliche Eigenschaft.
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Schöner Text! So ähnlich ging es mir, als in dem Ort, in dem ich die ersten paar Lebensjahre verbracht hatte, ein Kreisverkehr gebaut und dazu auch ein Haus abgerissen wurde.
Zeiten ändern sich, und übrig bleibt nur die Erinnerung. Wir werden eben alt.
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Ich bin ja sonst für ein wehleidiges „Ich werde alt“ immer zu haben. In dem Fall würde ich aber sagen: Wir leben und können uns an Veränderung erfreuen. Ich habe mich sogar recht jung gefühlt, als das Haus abgerissen wurde, weil mich der Vorgang in kindliches Staunen versetzt hat. Andererseits ist das Wunderbare am Altwerden, dass man Erinnerungen hat, in denen man kramen kann. Und den Großneffen eines Tages davon berichtet, wie man bei der Ausfahrt von dem Parkplatz gezittert hat … Und sie einen verständnislos angucken, weil sie sich das Haus da noch nicht einmal vorstellen können. 🙂
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Haha, das wehleidige Klagen kann ich gut. 😀
Du hast natürlich recht, wir können die Änderungen beobachten und vergleichen. Und ganz viele Geschichten erzählen, aus einer anderen Zeit. 🙂
Gerade dabei mach ich mir bei dir keine Sorgen. 😉
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„Das Land lebt.“ – Stimmt. Wenn ich allein bedenke, wie viele Spinnen und Ameisen hier auf kleinstem Raum herumkrabbeln. Im Garten hab ich gar nix dagegen, bloß die Ameisen in der Wohnung – auf die kann ich verzichten.
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Reiße ihren Ameisenhaufen ab. Mit Abrissbirne. 🙂
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Hatte letztes Jahr schon mal das Problem – die haben auf sämtliche Abrissbirnen gepfiffen, echt. Lästige Biester. Vermutlich rächen sie sich, weil ich sie mal in einer Horrorgeschichte als Monster dargestellt habe …
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Ein sehr schöner Beitrag! Und das sage ich trotz der Tatsache, dass ich ein kleiner Veränderungsphobiker bin und das Wort „Landleben“ aufgrund eigener, leidvoller und noch andauernder Erfahrungen für ein Oxymoron halte! 😉
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Dem typischen Geruch nach verwest das Land auch eher als dass es lebt. Urbanosierung würde ich den Vorgang auch nicht nennen, der sich hier vollzieht. Dafür verabscheue ich die Gegend hier zu sehr. Umso mehr freut es mich, dass dir der Beitrag dennoch gefallen hat.
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