Der Proust-Fragebogen beschäftigt sich heute damit, welche Eigenschaften man an Männern und Frauen am Meisten schätzt … In der Montagsfrage kam nämlich eine Frage, die ich nicht so ganz verstanden habe.

Zeilenende, der Vorzeige-Feminist von nebenan, legte dazu zwei Listen von Eigenschaften an. Er schrieb:

Warmherzigkeit, Fürsorge, Gesprächigkeit

auf die eine

Handwerkliches Geschick, Schweigsamkeit, starker Haarwuchs am ganzen Körper

auf die andere Liste. Dann überschrieb er die erste Liste mit „Mann“, die zweite Liste mit „Frau“ und beschimpfte dann die sexistische Welt. Anschließend zerknüllte er die Liste, denn auch sein subversives Vorgehen, typisch männlich konnotierte Stereotype den Frauen zuzuschreiben orientierte sich weiterhin an der zu überwindenden Differenz. Kurz: Wenn er Frauen mit Haaren auf dem Rücken toll findet, unterscheidet er immer noch Mann und Frau. Und die Unterscheidung ist nicht hilfreich, zumindest bei dieser Frage nicht, denn es geht doch um Charaktereigenschaften. Die schätzt Zeilenende bei Männern und Frauen und auch bei sich selbst gleichermaßen.

mannfrau

Während die Dame von heute gern Bart trägt, fällt auf, dass der einzige Herr in der Runde glatt rasiert ist. Langhaarigkeit hingegen ist bei Mann wie Frau beliebt. (Quelle, Urheber)

Eine sinnvolle Unterscheidung wäre die zwischen Kindern und Erwachsenen, weil Charaktereigenschaften Zeit brauchen, um sich zu entwickeln. Während man bei Erwachsenen Ehrlichkeit schätzen kann, sind Kinder entwicklungspsychologisch (folgt man Kohlberg) nicht immer in der Lage, ehrlich zu sein. Oder anders ehrlich als Erwachsene. Je nachdem, wie man Ehrlichkeit versteht. Aber das hier ist ja kein Seminar zur Moralentwicklung, deshalb spare ich mir genauere Einlassungen dazu. Ich diskutiere das ggf. in den Kommentaren.

Also gut, welche Eigenschaft schätze ich am Meisten? Ich habe mich entschieden, drei zu nennen, die ich nicht unbedingt in eine Rangfolge bringen kann, die ich aber bei Menschen zu schätzen weiß:

 

Aufrichtigkeit

Unter Aufrichtigkeit verstehe ich die Haltung, nicht zu lügen, aber auch nicht immer die volle Wahrheit zu sagen. Das unterscheidet sie von der Ehrlichkeit, die in den meisten Fällen zwar ebenfalls eine lobenswerte Eigenschaft ist, aber weniger als Aufrichtigkeit. Ein aufrichtiger Mensch verbindet Ehrlichkeit mit Taktgefühl, die Wahrheit in die richtigen Worte zu verpacken und manchmal auch zu schweigen, wenn die Wahrheit nicht verkraftbar ist. Ein ehrlicher Mensch trägt die Wahrheit auf der Zunge, ein aufrichtiger Mensch kann sie herunterschlucken. Damit lügt er nicht (und eine der schlimmsten Beleidigungen, die ich kenne, ist das scheinbar so simple: Lügner!), beweist aber zugleich Gespür für das Gegenüber. Aufrichtigkeit ist damit anstrengender als Ehrlichkeit und auch seltener … deshalb vielleicht so wertvoll.

 

Verlässlichkeit

Unter Verlässlichkeit verstehe ich nicht: Treue oder Loyalität. Ein loyaler Mensch ist hilfreich, solange ich die richtigen Entscheidungen treffe. Er folgt mir schweigend in den Abgrund. Ein treuer Mensch weist mich auf den Abgrund hin, geht dann mit mir gemeinsam unter. Ein verlässlicher Mensch besitzt genug eigenen Verstand, mich auf dem Weg aufzuhalten und, scheitert er, mir beim Sturz an der Kante stehend zuzuwinken und mich allein stürzen zu lassen.

Verlässlichkeit ist nicht Berechenbarkeit, Verlässlichkeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie im entscheidenden Moment unberechenbar ist. Nämlich dadurch, dass der Verlässliche mich auf meine blinden Flecken hinweist. Ein Verhalten, dass ich nicht berechnen kann.

Ein verlässlicher Mensch ist so lange loyal, bis ich den Abgrund übersehe, dann wird er treu, bis er einsieht, mich nicht aufhalten zu können. Dann wird er verlässlich. Dann wird es auch spannend: Der verlässliche Mensch bleibt nicht automatisch an der Kante stehen, vielleicht glaubt er mir auch, dass am Grund der Schlucht ein großes Bällebad ist und wir sehr viel Spaß miteinander haben werden. Wenn ich überzeugend bin, springt er doch mit. Der verlässliche Mensch ist das beste Korrektiv, das man sich wünschen kann.

 

Reflexionsvermögen

Ich bin ein Verstandesmensch. Damit stoße ich manche Menschen vor den Kopf. Ich durchdenke Probleme, stelle sie auf den Kopf und wieder auf die Füße, betrachte sie von vorne bis hinten und fertige Röntgenbilder von ihnen an. Was ich an mir schätze, schätze ich entsprechend auch an anderen Menschen. Wenn alle Menschen so wären wie ich, wüssten wir zumindest, wo unsere Probleme liegen. Wahrscheinlich kämen wir zum Ergebnis, dass uns ein gerüttelt Maß an Lockerheit fehlt.

Das schöne am Reflexionsvermögen ist, dass es nicht ein allein logisches Reflexionsvermögen ist, sondern auch die Reflexion auf Gefühle zulässt. Die kann man entweder logisch angehen oder „gefühlig“, empathisch (auch wenn das Wort mir in dem Zusammenhang nicht passend erscheint). Es hat mit Selbstbeherrschung zu tun, ist aber nicht damit identisch. Solange man weiß, wieso man unbeherrscht gehandelt (egal ob positiv oder negativ) hat, ist die unbeherrschte Handlung unter Umständen legitim. Ein Leben ist kein PC-Programm.

Das zweite schöne am Reflexionsvermögen ist, dass es auch in Ermangelung von Einfühlungsvermögen ein sehr brauchbares Instrument ist, andere Menschen zu verstehen. Deshalb schätze ich Reflexionsvermögen. Und weil man, wenn ein oder zwei Flaschen Rotwein im Spiel sind, mit überschäumendem Reflexionsvermögen herrlichen Blödsinn betreiben kann.

 

Wie ist es mit euch? Gibt es Unterschiede in schätzenswerten Eigenschaften zwischen Männern und Frauen oder gibt es universell schätzenswerte Eigenschaften? Und natürlich: Welche Eigenschaften sind das?

22 Kommentare zu „Proust-Fragebogen: Welche Eigenschaften schätzen sie bei einem Menschen am meisten?

  1. Das Problem bei Ehrlichkeit ist: Der Aussprecher macht es oftmals ohne rücksicht auf Verluste und wundert sich dann, warum er letztendlich doof da steht. In dem Sinne ist Aufrichtigkeit die weitaus bessere Wahl.
    Verlässlichkeit lässt sich in einem kurzen Satz beschreiben: Freunde erkennt man in der Not.

    Aufrichtig und verlässlich sein, wären meine wichtigen Punkte.

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  2. Echtheit, unverstellt, aufrichtig zu sein, ist mein Hauptanspruch an meine Gegenüber, so es um eine Zusammenarbeit oder eine Freundschaft geht.
    Alles Intrigante k*** mich an.
    Optisch muss sich das Innen irgendwie mit dem Außen treffen: Allzu viel Eitelkeit und Schnickschnack und äußere Statussymbole stoßen mich buchstäblich ab. Da bin ich sehr eigen mit „ersten Eindrücken“ und ihnen anhängenden Vorurteilen. Ich beobachte das aber und versuche das Ding mit der 2. Chance.

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    1. Das würde ich authentisch nennen, aber auch nur weil ich meine Zweifel daran habe, ob wir Menschen so kennen können, wie sie „wirklich“ sind.
      Mit Eitelkeit kenne ich mich ja aus. Aber du hast recht. Ohne eine gute Portion an Selbstironie ist die schwer erträglich.

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      1. Hihi … genau, ohne Selbstironie geht Eitelkeit noch weniger als gar nicht.

        Ja, authentisch meine ich, das ist aber inzwischen ein so abgelutschter und damit fast unausprechlicher Begriff geworden, dass ich ihn umschreibe …

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  3. An positiven Eigenschaften kann ein Mensch ja nie genug haben. Wenn ich mich aber auf die für mich wichtigsten beschränke, dann wären das Empathie und Verlässlichkeit.

    Wenn es mir mal nicht so gut geht – was während dieses ätzenden Winters eigentlich ein Dauerzustand ist – dann halte ich mich oft für den Nabel der Welt, mir muss dann geholfen werden, umgehend. 😉

    Da weiß ich es dann zu schätzen, dass es so zwei oder drei Menschen gibt, die schon merken, wie es mir geht, nachdem ich nur „Hallo“ gesagt habe. Und die sich dann auch noch die Zeit nehmen, mir zuzuhören und ganz banale Dinge zu sagen wie: „Ich weiß GENAU, wie Du Dich fühlst!“ 🙂

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  4. Ich bin ja schon erleichtert, dass niemand Humor erwähnt hat, weil das ja bei Frauen ganz oben stehen soll (ich warte ja immer noch auf das Gedrängel um mich ;- ) ), aber im ernst. Zuverlässigkeit und echte Hingabe sind sehr wichtig, wenn alles länger dauern soll als nur wenige Jahre. Auch die Bereitschaft ein echter Freund zu sein gehört dazu, ebenso wie die Akzeptanz des Gegenüber als Mensch ohne diesen verändern zu müssen damit es passt. Um mit meiner Frau für immer glücklich zu sein, habe ich mich entschieden ihre Schrulligkeiten zu lieben anstatt diese ändern oder kritisieren zu wollen, denn es ist wie in der Natur. Nehme ich dort einen Stein weg der mich stört, weiß ich nie was dieser Stein alles im Gleichgewicht gehalten hat, bis er weg ist.

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    1. Humor wird maßlos überbewertet. Der kommt, wenn der Geist gewitzt ist, meistens automatisch. Und wie du sagst, er schafft keine Beständigkeit. Dafür braucht man zwar auch Humor, aber maßgeblich sind andere Werte. 🙂

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  5. Ich kann Deine Ausführungen voll und ganz unterschreiben 🙂 was ich an Menschen mit Reflexionsvermögen liebe ist, das der Umgang mit ihnen unproblematisch ist….sie stehen gut geerdet in der Welt und müssen nicht bei jedem kleinen bißchen gleich rumzicken….was eher ein Frauending ist….aber mir sind auch schon männliche Zicken begegnet….meisten von eher kleiner Statur….

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      1. Ja….und das Gegenüber kann sich noch so Mühe geben sie herauszufordern….sie bleiben gelassen….tut ihnen gut und dem Gegenüber auch 🙂

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