Wortmans 29 Tage gehen zu Ende. Ich habe das zum Anlass genommen, über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Selfie und Portrait nachzudenken. Und ich starte ein neues Projekt, zu dem ich euch auch herzlich einlade.

Ich bin vor einiger Zeit gefragt worden, was ich von Selfies halte. Meine Antwort in Kürze war: Ist mir gleichgültig, habe ich nicht so viel mit zu tun. Das ist soweit richtig, weil ich mich mit dem Phänomen nicht eingehend beschäftigt habe. Aber mit der Frage war eine Spur gelegt und das Selfie ließ mich nicht los. Egal, ob ihr mir nicht glauben wolltet, das Cordhose, Hemd und Star-War-T-Shirt gut aussehen (das war noch kein klassisches Selfie sondern eher ein Body Shot im Spiegel), ob ich dokumentieren wollte, wie ein Foto entstanden ist oder ob ich das Selfie als Stilmittel für eine Bild-Geschichte ausprobiert habe. Alle drei Bilder entstanden, um etwas zu dokumentieren und die Möglichkeit des Selbstbildnisses auszuloten.

Die Abbildung des Gesichts hat in der Malerei und Photographie eine gewisse Tradition. Wir alle, die wir in Deutschland leben, volljährig und berufstätig sind, haben in ihrem Leben mindestens zwei Bildnisse von sich anfertigen lassen. Das Bild für den Personalausweis und das Bewerbungsbild. Beide bezeichnet man als Portraits. Und schon zwischen beiden Bildern besteht ein Unterschied: Das für den Personalausweis ist genormt und wir empfinden uns darauf als unvorteilhaft abgebildet. Auch ich. Auf meinem Personalausweis sehe ich gelbsüchtig aus.

Der Grund liegt in der Intention: Das Bild für den Personalausweis wird zum Teil eines offiziellen Dokuments, es ist dokumentarisch. Das Bild für die Bewerbung ist Teil von Werbematerialien, es soll selbst werben und ist damit künstlerisch. Es rückt uns ins bestmögliche Licht: Falten lassen sich ausleuchten, sodass die Haut weniger gelebt aussieht, ein unschöner Pickel lässt sich retuschieren. Und doch ist die Trennung nicht so scharf, wie sie wirkt.

Das Bewerbungsbild ist dokumentarisch. Es zeigt, wie wir uns selbst sehen oder wie wir uns sehen wollen. Es ist ebenso normiert, mindestens durch unsere Ideale. Wir gehen vorher zum Friseur, die Herrenwelt, die auf den Bartschatten im Alltag pfeift, geht frisch rasiert zum Shooting, wir wählen ganz bestimmte Kleidung aus, wir lächeln freundlich in die Kamera und dokumentieren unser eigenes Selbstbild … Oder unsere Anpassungsfähigkeit an vermeintliche Normen.

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So sieht übrigens der Zeilenende in seinen Bewerbungen aus.

Das Ausweisbild ist künstlerisch. Aus dem eben Gesagten sollte deutlich werden, dass auch das Bewerbungsbild nicht allein dazu dient, schön zu sein. Es transportiert eine Botschaft. Gleiches gilt für die gemalten Portraits vergangener Zeiten. Diese sollten immer auch eine Botschaft transportieren: Bildungsgrad, Reichtum, Unterwerfung unter gesellschaftliche Konventionen, etc. Dementsprechend heißt künstlerisch eben nicht, dass es schön sein muss. Das Ausweisbild versucht, Realität herzustellen, aber nur eine Art von Realität. Es ist eine inszenierte Momentaufnahme in grellem Licht, es wählt die Frontalperspektive, es verbietet jegliche Mimik. Das sind Setzungen, die vermeintlich objektiv sind, aber lediglich unserer künstlerischen Vorstellung von Objektivität dienen, normiert durch den Anspruch, die Bilder notfalls elektronisch zur Gesichtserkennung auswerten zu können. Ausweisbilder zeigen uns genau so wenig so, wie wir sind, wie dies Bewerbungsbilder tun.

Das Portrait dokumentiert auf künstlerische Art, egal was seine Intention ist. Und Gleiches gilt für das Selfie. Was auch immer der konkrete Anlass für ein Selbstbildnis ist: Wir dokumentieren mit dem Selfie eine bestimmte Situation. Es ist eine Momentaufnahme (dokumentarischer Charakter) in einer bestimmten Position, die uns zum Mittelpunkt des Geschehens macht (künstlerischer Charakter).

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Ein halbes Selfie zugegeben, aber es macht es deutlich: Ich dokumentiere mit diesem Bild, wie ein Foto entstanden ist, es ist eine Momentaufnahme. Das Smartphone lag gerade neben mir und mir fiel auf, was das für eine alberne Situation ist, in die ich mich für das Foto begeben habe. Also habe ich es dokumentiert, um euch an der Albernheit teilhaben zu lassen. Zugleich ist es künstlerisch. Ich bin nur angeschnitten, weil ich die Linie haben wollte: Zeilenende – Kamera – Seamus. Aber: Ich – MEINE Kamera – MEIN Objekt. Ich inszeniere mich mit diesem Bild zugleich selbst.

Das Bild verrät natürlich noch mehr, ihr seht meinen Schreibtisch, der eigentlich ein ausrangierter Küchentisch ist, ihr sehr im Hintergrund eine Jacke, einen Gürtel, Hosenträger und ein Unterhemd. Es ist ein kleiner Blick in Zeilenendes Dachkammer. Die Momentaufnahme entfaltet damit aber zusätzlichen Reiz. Was bietet sie noch?

Ich habe mir deshalb die Frage gestellt, was passiert, wenn ich aus der spontanen Momentaufnahme eine geplante spontane Momentaufnahme machen würde. Es entstünde eine Sammlung an Ausschnitten aus meinem Leben. Damit die Regelmäßigkeit nicht langweilt, wäre Kreativität gefragt: Welchen Hintergrund braucht es, welche Perspektive wähle ich, welche Mimik ergibt sich? Und zugleich dokumentiere ich mich selbst: Bleibt das Gesicht gleich, ändert sich die Frisur, der Bart? Was passiert eigentlich mit einem Gesicht?

Ich habe keine Ahnung, wie die Antworten aussehen werden, aber ich habe Lust darauf, es auszuprobieren. Außerdem endet die 29-Tage-Reihe morgen. Seamus will das nicht wahrhaben und brütet über einer Idee. Aber das soll er euch morgen selbst erzählen. Ich will es auch nicht wahrhaben, weil ich in diesem Monat viel gelernt habe, allein dadurch, dass ich täglich die Kamera in die Hand genommen habe.

Deshalb startet heute mit diesem mein neues Projekt „52 Wochen“. Jeden Sonntag gibt es zusätzlich zum regulären Sonntagsartikel ein Selfie. Und wahrscheinlich noch mehr. Ich habe die 29 Bilder von Seamus immer zum Anlass genommen, eine Geschichte zum Bild zu erzählen. Das ergab sich. Ich sah das Bild und die Geschichte war da. Ich habe keine Ahnung, wie die Geschichten der 52 Wochen aussehen werden, ob sie dokumentieren oder künstlerisch sind, welche Form sie haben werden.

Aber ich bin neugierig und lade euch ein, mich ein Jahr lang zu begleiten. Wer möchte, darf gern auch mitmachen, egal ob mit Selbstbildnis oder mit etwas Anderem. Egal ob am Sonntag oder an einem anderen Wochentag, egal ob ihr jetzt beginnt oder später, egal ob mit Smartphone oder Kamera. Was ich schön fände, wäre etwas Alltägliches: Der Blick aus dem Fenster, der Schreibtisch, der Frühstücksplatz. Und ich fänd es schön, wenn ihr eure Ergebnisse jeweils Sonntag Nachmittag bei mir hinterlasst, damit sich alles an einem Ort sammelt. Ich fange einfach an:

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Ich dachte mir, den Einstieg machen wir ganz klassisch. Noch ein wenig derangiert, weil ich bis zum Schreiben des Beitrags Brotteig geknetet habe. Deshalb auch noch kein denkwürdiges Brotbild der Woche. Das überlasse ich Seamus. Dafür war ich beim Friseur und der Bart passt nicht mehr so gut.

 

44 Kommentare zu „Selfies und Portraits (Projekt 52 Wochen)

  1. Ich bin total begeistert! Mitmachen werde ich vermutlich erst mal nicht – vielleicht ergibt sich das aber noch. Begleiten durch’s Jahr möchte ich dich und die, die daran teilnehmen auf jeden Fall. Es ist unglaublich faszinierend zu sehen, wie Bilder eines Menschen den Eindruck, den man über diesen Menschen hat, beeinflussen. Wieder einmal bestärkt mich das in meiner Meinung, dass man sich lediglich aufgrund der Äußerlichkeiten kein vorschnelles Urteil über jemanden erlauben sollte. Lieber erfährt man durch das (persönliche) Gespräch etwas über sein Gegenüber, als sich im stillen Kämmerlein selbst „ein Bild“ zurecht zu basteln. Alleine in deinem Beitrag zeigst du drei Bilder, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die für mich, die ich dich nicht persönlich kenne, auch drei unterschiedliche Männer darstellen könnten. Auf Bild Nr. 1 der Denker, bei dem man aber nicht weiß, ob er sich nicht insgeheim amüsiert, auf Bild Nr. 2 ein amüsierter Fotograf, der zumindest so aussieht, als ob er Spaß an dem hat, was er tut und auf Bild Nr. 3 ein in der Tat etwas derangierter Zeilenende, zu dem das Star Wars Hemd absolut passt :p. Das sind aber Assoziationen und im Grunde Stereotypen, die bei mir entstehen und die ein anderer Mensch, der andere Erfahrungen, Erinnerungen und Interessen in sich trägt, nicht verstehen könnte, weil dieser Mensch wiederum andere Bilder mit deinen Bildern verknüpft.
    Bevor ich mich verknote, höre ich aber an dieser Stelle auf und sage nur noch einmal: Ich bin begeistert und freue mich auf deine sonntäglichen Beiträge!

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    1. Und dein Kommentar zeigt zugleich sehr schön, wie schnell man sich doch Bilder von einem Menschen machen kann, wenn man es darauf anlegt. Mein erster Kommentar zum Bewerbungsbild war übrigens: „Damit kann ich mich als Magier in einer Rollenspielgruppe bewerben.“
      Aber du sprichst in der Tat noch einen weiteren Punkt an, der mich interessiert: Wie ich mir ein Bild von mir mache und wie andere sich das Bild machen. Und wie andere sich ein Bild von sich oder ihrer Umwelt machen.
      Verwickelnd, gell? Wer weiß, wo das endet.

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  2. Erste Bemerkung: Auf deinem Bewerbungsfoto erinnerst du mich stark an den Großen und leider viel zu früh verstorbenen Leonard Nimoy. Von ihm gibt es auch Bilder in genau dieser Pose (bin nur gerade zu faul, sie herauszusuchen…).

    Zweite Bemerkung: Super Idee. Ich bin dabei. Siehe auch hier: https://solera1847.wordpress.com/2016/02/28/und-weg-war-die-stunde/ (eher am Ende)

    Dritte Bemerkung: Das Selfie beim Fotografiern von Seamus ist einfach nur cool. Selbstinszenierung ist ohnehin die angenehmste Form der Selbstbeweihräucherung – und in dieser Disziplin bin ich äußerst bewandert.

    Vierte Bemerkung: Jetzt wird’s aber Zeit, dass ich meinen faulen Hintern vom Sofa bekomme, um gleich ein Selfie zu schießen. Bis gleich!

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  3. Nur drei Sachen: 1. Du hast uns ohne rot zu werden „und so sieht der Zeilenende auf seinem Ausweis aus“ unterschlagen ;). 2. Ich erwäge eine Teilnahme am 1-Jahr-Sonntags-Projekt. Könnte meinem Blog ganz gut tun. 3. Wer zum Teufel hat so reine, glatte Haut? Das grenzt an Unverschämtheit. 4. (ups) Ich muss mich entschuldigen. Peeling und Maske. Sie verstehen.

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    1. Noch jemand mit Aufzählungen?! ^^
      1. Ich hab kein Digitalisat. Kommt vielleicht noch, muss ich abfotografieren.
      2. Ich würde mich freuen. Man kann ja ein- und aussteigen wie man mag. Aber ich möchte wetten, man lernt auch was über sich.
      3. Weißt du jetzt, warum ich beim Einkaufen nach dem Ausweis gefragt werde? ^^
      4. Feuchtigkeitscreme reicht. *hust*

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  4. Deine Idee finde ich schon ganz witzig. Ob ich mitmache? Wohl eher nicht, da ich Selfies hasse. Es gibt derzeit keine schlimmere „mediale“ Volkskrankheit… habe ich so das Gefühl. Verfolgen werde ich deine Aktion auf alle Fälle 🙂

    Was dein Bewerbungsfoto angeht, da gibt es eine ziemliche Diskrepanz zum Avatarfoto 😆
    Du suchst einen Job? Was hast du denn gelernt bzw. vorher gemacht?

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    1. Ich bin Geisteswissenschaftler und habe zuletzt mehr oder weniger als Bibliotheks- und Seniorenpädagoge gearbeitet.
      Was die 52 Wochen angeht, ist es auch die Seuche, die mich inspiriert. Was bringt die Leute dazu, sich selbst in so hoher Frequenz abzulichten? Prinzipiell ist aber auch ein Nicht-Selfie denkbar. Eine Teilnehmerin knipst jeden Sonntag ihr Wohnzimmer. 😉

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      1. Ok… unter dem Gesichtspunkt, jede Woche die Veränderlichkeit einer Ecke, einer Blickrichtung etc. könnte ich eventuell doch drüber nachdenken 🙂

        Welche Wissenschaft denn? Soziologe, Psychologe oder Bäcker? 😆 Im Ernst: Da kann ich mir vorstellen, ist es schwer, was nützliches zu finden… Ansonsten, der Flughafen braucht immer gute Kofferwerfer 😉

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        1. Ethik, Geschichte und (Schul-)Pädagogik. Das ganz harte Programm also. ^^ Ich könnte ins Referendariat am Gymnasium … Aber ich mag nicht.
          Man findet, die Konkurrenz ist nur hoch und hat für die interessanten Stellen den Diplom-Bibliothekar. Aber ich bin ja noch jung. Ich find was.

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      2. Sei mir nicht böse, aber wenn du das mit dem Referendat nicht magst, warum hast du das dann studiert? 😉 Oder hat es was mit dem Gymmi zu tun?
        Bibliothekar ist natürlich auch was… Ich drück dir die Daumen.

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        1. Ich habe gemerkt, dass das nichts für mich ist, als ich mit dem Studium zu weit war, um noch was Anderes zu beginnen. Rückblickend war das wohl eine Verlegenheitslösung. Positiv ist: Ich habe letztlich einen Master.

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          1. Ok, das kann ich nachvollziehen. Meine tochter ist in einer ähnlichen Situation. sie merkt, es ist nicht wirklich ihre Interessenrichtung und mit dem Cheffe klappt das auch nicht wirklich. Sie überlegt gerade, den „Doktor machen“ abzublasen…

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            1. Mhm … Für Promotion muss man je nach Fachrichtung auch Nerven aus Draht und mehr Idealismus als sonstwas haben. Karriereplanung kommt einem manchmal, wenn man noch am Anfang steht, wie eine unüberwindbare Lebensaufgabe vor. Ich kann mich zumindest dieses Eindrucks nicht erwehren.

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              1. Das Beste, was du machen kannst. Zumindest mir geht es so, dass ich das mit mir ausmachen muss und frage, wenn ich einen Rat brauche.

                Rein aus Interesse, weil ich ja da studiert habe: Die Marburg-Tochter?

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  5. Wow, tolle Idee. Ich glaube, das mache ich auch! Danke 🙂

    Ich weiß, das ist ein ganz fürchterlich unkreativer Beitrag, aber ein spontaner und echter. Die Worte kommen, sobald der Gedankennebel sich lichtet.

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    1. Ich find dein Interesse an dem Projekt super. Wenn du dich entscheidest, verlink doch bitte meinen jeweils aktuellen Beitrag, dann bekomme ich es auf jeden Fall mit und kann dich mit in die Liste aufnehmen. Wir sind immerhin zu sechst. Mit ganz unterschiedlichen Ansätzen. 🙂

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