Mein lieber Herr Gesangsverein,

dies ist ein Brief für dich, weil du dich unter dem Pseudonym „Roland Reuß“ auf die Internetseite der FAZ gemogelt hast. Unter diesem Pseudonym witterst du den Untergang des Abendlandes.

Du befindest dich in guter Gesellschaft. Bedeutende Männer wie Oswald Spengler haben ihn in der Vergangenheit herbeizuschreiben versucht, gegenwärtig bemüht Lutz Bachmann sich, es herbeizuschreien. Was diese beiden Männer verbindet ist die Vorstellung eines statischen Abendlandes, das sich – immun gegen Veränderung – monolithisch durch die Zeiten bewegt, unveränderlich, ewig. Alles Neue muss unter solchen Bedingungen zur Bedrohung werden.

Lieber Herr Gesangverein, du bist anders als Spengler oder Bachmann. Du verteidigst lediglich das hehre Licht der Forschung und Aufklärung gegen Ideologie und Ausbeutung. Dir geht es nicht um Christentum oder die Reinheit des deutschen Volkes. Du siehst die Wissenschaftsfreiheit gefährdet, genauer: Du wirfst der baden-würtembergischen Landesregierung vor, die Forscher*innen an den Universitäten auszubeuten und zu entmündigen.

Wie soll das geschehen, lieber Herr Gesangverein? Ein neuartiges Vorgehen, das der Teufel erfunden hat und sich „Open Access“ nennt. Wie das gehen soll, frage ich mich, lieber Herr Gesangverein. Nun, da du dich als Literaturwissenschaftler ausgibst, werde ich es mir anhand eines geisteswissenschaftlichen Beispiels vorstellen. Da du dich als Universitätsprofessor tarnst, werde ich mir einen geisteswissenschaftlichen Universitätsprofessor vorstellen.

Ja, du hast es nicht leicht. Du gehst Tag für Tag in ein beengtes Büro, in dem du zahllose Drittmittelanträge bearbeiten musst. Anschließend betreust du deine Doktoranden, aktualisierst deine Power-Point-Präsentationen, hetzt in den Hörsaal und hältst vor einer Meute ungebildeter Affen eine Vorlesung. Die Hälfte der Leute hört dir nicht zu, sondern checkt Facebook, ein Viertel der Leute hört zu, aber in ihren leeren Gesichtern erblickst du nicht die Spur von Verständnis, ein Achtel versteht die Hälfte deiner Sätze nicht, lediglich das übrig gebliebene Achtel folgt gebannt an deinen Lippen hängend deinen Ausführungen. Dieses Achtel gibt dir Kraft für den Rest des Tages, an dem du die Sprechstunde abhältst, Seminararbeiten korrigierst und dich auf eine Gremiensitzung vorbereitest.

Es ist finstere Nacht, lieber Herr Gesangverein, als du auf deinem Schreibtisch endlich die Kerze der Weisheit entzündest und in ihrem Schein ein weiteres Kapitel deiner monumentalen Monographie über den Übergang von Weimarer Klassik zur Romantik verfasst. Das ist eines deiner Spezialgebiete, nicht wahr?

Lieber Herr Gesangverein, ich bin selbst Geisteswissenschaftler, ich will die Bedeutung deiner produktiven Arbeit für die Gesellschaft nicht schmälern, im Gegenteil. Ich will auch nicht deine schöpferische Leistung gegen deine Aufgabe des Lehrens ausspielen. Die Wissenschaft liefert einen wichtigen Beitrag für die zivilgesellschaftliche Debatte, zum Menschenbild, zum Umgang miteinander und der Frage, was das Leben sei. In diesem Punkt gebe ich dir Recht. Völlig.

Wieso, lieber Herr Gesangverein, legst du aber so viel Wert darauf, dass diese Arbeit für die Zivilgesellschaft der Zivilgesellschaft nicht vollumfänglich zur bedingungslosen Nutzung freigegeben wird? Die Polizei leistet ihren Beitrag zum zivilgesellschaftlichen Miteinander für die Bürger unentgeltlich. Sie schützen mich gratis. Du möchtest nun bestimmt einwenden, dass die Polizisten, die dies tun, dafür ein Gehalt vom Staat beziehen, finanziert von meinen Steuergeldern.

Lieber Herr Gesangverein, wie ist es mit dir? Du bist Universitätsprofessor, dein Dienstherr ist das Bundesland, an dessen Universität du lehrst. Dein Dienstherr verlangt von dir, zu lehren und zu forschen. Forschung bedeutet in den Geisteswissenschaften: Denken, schreiben, veröffentlichen zum Wohle der Zivilgesellschaft, denn über deren Grundlagen und Fragen denkst du nach, wie wir konstatiert haben.

Lieber Herr Gesangverein, wenn ich mich nicht irre, wirst du von deinem Dienstherrn für Lehre und Forschung nach W2 besoldet. Du bekommst dafür pro Monat 5.532 Euro brutto, dazu kommen wahrscheinlich noch einige Zulagen. Das sind im Jahr 66.384 Euro. Lieber Herr Gesangverein, das ist viel Geld, das bekommst du zu Recht für viel Arbeit.

Was ich nicht verstehe, lieber Herr Gesangverein, ist Folgendes: Du wirst für das Schreiben von Artikeln und Büchern bezahlt. Du genießt das Privileg, dass du dir die Themen, über die du schreiben möchtest, aussuchen darfst. Das nennt sich Forschungsfreiheit. Der Staat bietet dir die Gelegenheit, dich ganz dem zu widmen, was dich interessiert oder was du für wichtig hältst. Deine Texte sind deine Babys, du verbringst mit ihnen viel Zeit, du investierst dein Herzblut in sie. Du publizierst nicht, um zu gefallen, das musstest du früher tun, bevor du es geschafft hast und dich Professor nennen durftest. Da musstest du Kompromisse eingehen und auch an die Karriere denken. Aber jetzt, im Olymp der Wissenschaft, bist du frei und bekommst für diese Freiheit Geld. Und zwar mein Steuergeld.

Du bist wie der Polizist, nur dass der sich nicht aussuchen kann, welche Gesetze er durchzusetzen hat. Du bist frei. Auf meine Kosten. Ich trage diese Kosten gern. Aber, lieber Herr Gesangverein, du schreibst damit auch für mich. Und damit, lieber Herr Gesangverein, habe ich doch ein Anrecht darauf, von deiner Arbeit zu profitieren.

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Auch die Kerze der Weisheit is käuflich geworden.

Du wetterst gegen dieses Ansinnen, denn du willst nicht, dass ich deine Texte gratis im Netz finden kann. Du bemühst das Dammbruch-Argument, dass dann auch Stipendiat*innen ihr Recht auf freie Publikationswahl abtreten müssten, wenn sie vom Staat fürs Schreiben bezahlt werden. Der Unterschied ist, dass der Staat in diesen Fällen die Schreiber*innen unterstützt, während er in deinem Fall, lieber Herr Gesangverein, dafür bezahlt und einem gesellschaftlichen Auftrag nachkommt.

Lieber Herr Gesangverein, wenn du ein Buch schreibst und es bei einem Verlag publizierst, bekommst du dafür Tantiemen. Die Früchte deiner Arbeit erntest du selbst. Du möchtest damit von deinen beruflichen Produkten auch privat profitieren. Lieber Herr Gesangverein, erlaube mir ein ähnlich wackeliges Argument wie das des Dammbruchs:

Wie wäre es um eine solche Welt bestellt, in der wir die Produkte unserer Arbeit noch einmal privat verwerteten? Sagen wir, du willst in dieser Welt ein Auto kaufen. Du betrittst ein Autohaus, suchst dir einen schönen Wagen aus und bezahlst den Händler. Vor der Tür warten die Monteure bereits mit ausgestreckter Hand. Sie möchten von dir Geld, weil sie das Auto immerhin gebaut hätten. Lieber Herr Gesangverein, zurecht würdest du dich empören, dass sie ihren Lohn doch von ihrem Arbeitgeber bekämen und du den Arbeitgeber für das Produkt bezahlst.

Lieber Herr Gesangverein, auch wenn ein Automobil und eine wissenschaftliche Publikation miteinander nicht viel gemein haben, da hast du recht, ist das Prinzip doch das gleiche: Du wirst für Forschung bezahlt, nicht bloß fürs Denken und Schreiben. Forschung bedeutet, zu veröffentlichen, die Ergebnisse mitzuteilen und zur Diskussion zu stellen. Auf die Resultate deiner Forschung hast nicht nur du Anspruch, nicht du allein darfst darüber bestimmen, es sei denn, du kannst belegen, an deiner Publikation nur in deiner Freizeit gearbeitet zu haben.

Lieber Herr Gesangverein: Ja, dies ist eine Polemik. Aber wer den Untergang des Abendlandes herbeischreibt gegen ein Projekt, das jedem interessierten Menschen den Zugang zu Wissen ermöglichen möchte, der verkennt eine fundamentale Tatsache über das Abendland und seine Forschungsfreiheit. Aufklärung als die Überwindung von Unmündigkeit verlangt das Bemühen jedes Einzelnen, sich aufzuklären. Die Möglichkeit der Aufklärung ist aber auch vom Zugang zu aufklärendem Material abhängig. Es ist paradox: Der Staat – als Herrscher an Aufklärung seiner Untertanen per se nicht interessiert – will (in Grenzen) die Aufklärung befördern. Du, lieber Herr Gesangverein, als Vertreter der Wissenschaft, der Forschungsfreiheit, als prototypischer Vertreter der Aufklärung, verrätst für einen ökonomischen Vorteil deine Ideale.

Ist dir das aufgefallen? Es war mein erster Gedanke, als ich deinen Artikel las. Und mir war recht schnell klar, dass es dir nicht um das klassische Problem der marxistischen Ökonomie geht, dass du dich von deiner Arbeit entfremdet fühlst, denn um dich geht es in deinem Text gar nicht, behauptest du zumindest. Doch mit jeder Zeile wurde mir bewusster, dass es doch um dich geht. Und mein einziger Gedanke war: Mein lieber Herr Gesangverein.

 

Untertänigste Grüße,

dein unmusikalischer Finanzier Zeilenende.

 

2 Kommentare zu „Open Access und Profitfreiheit

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