Ich beginne mich aufzulösen. Mein Selbst löst sich von dem Ort, an dem ich bin und geht in einen höheren Bewusstseinszustand über. Es befindet sich weiterhin hier, gerade vor dem PC, aber das ist ihm nicht genug.

Ich lese momentan ein Buch, in dem sich eine Figur, Kat, für die Singularität begeistert. Die Singularität ist der magische oder furchteinflößende Moment in der Zukunft, an dem Maschinen lernen, sich selbst zu verbessern und die Menschheit entweder überflüssig machen oder das Potential der Menschheit endlich für sinnvolle Dinge freisetzen.

Kat ist durch und durch Technik-Enthusiastin. Sie begeistert sich für ihre unbegrenzten Möglichkeiten: Die Zerlegung komplexer Anfragen in einfache und die Verteilung an viele verschiedene Bearbeiter, der Einfluss von Open Access auf die Wissensgesellschaft und vor Allem die Möglichkeit, via Social Media an mehreren Orten zugleich zu sein. Ein Blick in die Twitter-Timeline und ein Teil ihres Bewusstseins blickt sich in Australien um, ein anderer Teil jagt Eisbären in Alaska und ein dritter Teil widmet sich dem Verständnis von Hegels Weltgeist, während ihr physisch manifestes Ich in einem Café sitzt und die Menschen durch die Schaufensterscheibe beobachtet.

Es gäbe viel über die erschreckenden Aspekte des Ganzen zu sagen. Kein Teil des Ganzen ist die „Auflösung des Ich“. Das Ich als „ein Ich“ zu konstitutieren ist selbst eine menschliche Leistung, die Synthese unterschiedlicher Kontexte, Verhaltensweisen und Wahrnehmung zu einer kohärenten Erzählung. Wir sind, um ein Bild zu benutzen, die Autoren unseres Lebens. Die Konsistenz hängt von unserer Fähigkeit ab, alle Teile zu einem Ganzen zusammenzufügen. Für diese Fähigkeit ist es unerheblich, ob unsere Aspekte sich nacheinander oder nebeneinander aneinander reihen.

Konkret: Ich, Zeilenende, backe morgens einen Kuchen für eine Sportveranstaltung, werde als der talentierte Hobby-Konditor wahrgenommen. Anschließend lese ich mich durch die Nachrichten, bin Zeilenende der politisch Interessierte, schreibe einen Blogbeitrag und bin Zeilenende der Schwätzer, schaue mir eine Folge Mad Men an und bin Zeilenende der Serienjunkie. Zwischendurch interagiere ich mit dem Frühaufsteher und bin Zeilenende der Clown, mit Mutter Zeilenende und bin Zeilenende der brave Sohn, etc. Während ich mit dem Frühaufsteher interagiere, spielt der Nachrichten-Zeilenende nur im Hintergrund eine Rolle. Dass ich Zeilenende, der brave Bäcker-Sohn mit schwatzhaften Clownallüren (wie gut, dass es eine Serie diesen Namens gibt) bin, spielt in keiner der Situationen vollständig eine Rolle, es geht immer nur um Facetten.

Ich habe dieses Thema schon das ein oder andere Mal aufgegriffen. Es kam mir wieder einmal in den Sinn, weil ich heute Nacht einen Traum in 140 Zeichen hatte. Ich kann mich eigentlich recht selten an meine Träume erinnern. Dieser hier war anders als diejenigen, an die ich mich erinnern kann. In meinen Träumen trete ich eigentlich immer als „Ich“ auf, nehme meine Träume durch meinen vorgestellten Körper war. In diesem Traum blickte ich mir allerdings über die Schulter. Ich war schon noch ich, ich hatte das Gefühl, in meinem Körper zu stecken, dennoch blickte ich mir selbst über die Schulter und sah mir dabei zu, wie ich mich ins Internet projizierte.

Eigentlich war ich nur damit beschäftigt, auf Twitter umherzustreifen. Ich tauchte in anderer Leute Timelines ein. Auch wenn er nicht sichtbar war, war ein dritter Zeilenende anwesend, der Projizierte. Ich sah mir nicht nur dabei zu, wie ich dort am PC saß, ich fühlte mich ihm auch verbunden. Ebenso verbunden fühlte ich mich mit meinem digitalen Selbst, es war beinahe so, als steckte ich physisch noch einmal im Netz. Das sprachlich zu erklären gelingt mir nicht, aber im Traum war es deutlich spürbar: Mein Bewusstsein digitalisiert, zugleich an mehreren Orten, sich selbst beobachtend. Eine spannende Erfahrung.

In okkulten Gesellschaften und mystischen Bewegungen geht es häufig darum, das Bewusstsein aus dem konkreten physischen Körper zu lösen, sich einen Astral-Leib zu schaffen und mit ihm die Grenzen von Raum und Zeit zu überwinden. Immer an den Körper gebunden, denn wenn man nicht zurückkehrt, geht man verloren. Vielleicht sind wir dieser Vorstellung näher, als wir denken. Vielleicht ist auch unser Körper nur ein Aspekt unseres Selbst und wird zum Schemen, so wie jede einzelne Rolle, die wir spielen. Eine Gefahr? Sicherlich. Aber gleichzeitig tun sich neue Möglichkeiten auf. Denkt nur dran, die Rückfahrkarte nicht zu verlieren.

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Wenn man nur lange genug hinschaut, sind wir auch als handfeste Menschen manchmal nur Schemen.

11 Kommentare zu „Twitter-Träume

  1. Na ja….das der Mensch verschiedene Rollen ausfüllt ( an der Rolle der Mutter sehr schön verdeutlicht: Köchin, Lehrerin, Krankenschwester, Ehefrau, selbst Kind, Taxiunternehmerin, Psychologin, Friseuse, Yoga Schülerin, ….. ) haben die Soziologen schon lang erkannt…aber was würde Rudi ( Rudolf Steiner ) dazu sagen….das es mal zu sehr ins okkulte abdriftet kann ich mir nicht vorstellen…. vielleicht ist es auch ein Bild dessen wo es heißt „Mensch nimm dich nicht so wichtig!“….denn gemessen an dem großen Universum sind wir klitzekleine Kreaturen….

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  2. Wir alle bestehen aus Facetten, nur zeigen wir nicht gerne alle, denn manche behalten wir lieber für uns. In einer Welt die bis zu 26 Dimensionen hat, ist nichts undenkbar, schon alleine wegen der unzähligen winzigen Wurmlöcher die uns umgeben (Quantenschaum) 😉

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  3. Ja, so stelle ich mir Gott/Tao/Universum oder was weiß ich vor, die Weltseele der Stoiker, den Urgrund des Seins …. Wie heisst das Buch denn eigentlich ? Mal recherchieren. In asiatischen Philosophien wird vom persönlichen Ich als Ich-Illusion gesprochen, also das geprägte Ich, welches ich bin geformt durch meine Vergangenheit, nur ich selbst kann begrenzt in mich schauen, alle anderen sind nur mein Äußeres, und oft liest man von Zen- bzw. Buddhismus-Philosophen (Spekulanten wie in anderen Religionen) dass das Ich, also ich hier, wie ich schreibe oder der der das geschrieben hat zu dem Thema, das ich gerade zitiere, das einzige Bewußtsein ist, was existiert, tja …da ist mir die Kat-Version lieber, weil mir durch das Beschätigen mit Zen,Tao und Buddhismus seit 10 Jahren dieses Bild mehr einleuchtet.

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    1. Ich mag den Begriff der Ich-Illusion eigentlich nicht so gern, denn bei aller Narratio ist dieses Ich, was wir uns zusammenschreiben, manifest und real. Und das einzige Ich, das wir haben. Jenseits dessen gibt es … Nichts … Also zumindest haben wir keinen Grund, davon auszugehen, also sollte man vorsichtig sein, ob man seine Hoffnung auf so etwas richten möchte oder nicht doch das Beste aus den Gegebenheiten macht. Das ist immerhin eine ganze Menge an Möglichkeiten. 🙂

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      1. Ja, nun, der Osten hat die Wirklichkeit, wie sie sich jedem darstellt nicht gepachtet; ich selbst nenne mich nichtpraktizierender Buddhist, dort wo Schubladendenken gefordert wird. Wenn man sich Jaaahre mit einem Thema beschäftigt hat, kriegt man es nicht so schnell aus dem Denken, aber ob Jesus, Buddha oder eine Google-Sync-Cloud-Singularität-Programmiererin oder irgendein anderer „Lebender“, jede/r*s hat seine/ihre andere Lebens-Einstellung, um über die Jahre zu kommen bis es wieder Zeit wird den Hut zu nehmen. 😉 Analogien sind etwas Schönes; das Buch habe ich in meinen Merken-Ordner geschoben, momentan habe ich noch ein anderes empfohlenes in der Lese, aber ich komme darauf zurück, herzlichen Dank Zeilende.

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