Ich habe ein Buch gelesen, in dem es nicht um reine, praktische oder sonstige Vernunft geht, das muss mit einer Besprechung gefeiert werden. Ebenso wie das große Vergnügen, das mir die Lektüre und die vorhergehende Lesung bereitet hat.

Bereits in der Lesung habe ich Adriana Altaras dafür gefeiert, dass sie Alltägliches und schwere Themen zugleich anpackt und beides in einem luftig-leichten Ton präsentieren kann. Das liegt mitnichten daran, dass sie in der Lesung die Highlights ihres Schaffens vorgestellt hat, sondern dass sie großartig Geschichten erzählen kann.

Quelle

Inhalt lt. Verlagshomepage

David wäre gerne Israeli. Er ist nicht nur hochbegabt, sondern auch hochpubertär und raunzt seinen westfälischen Vater beim Abendessen regelmäßig mit »Ey, Doitscha« an, was ebenso regelmäßig zum familiären Eklat führt. Deutscher zu sein, ist keine einfache Sache, gesteht Adriana Altaras, erst recht nicht in einer jüdischen Familie …
Mit Aaron, Davids Patenonkel, ist Adriana Altaras seit ihrer Jugend befreundet. Sie wollten damals auswandern nach Israel, das für sie ähnlich verlockend war wie für die Surfer Hawaii. Doch sie blieben und nutzten das schlechte Gewissen der Deutschen, um umsonst Bahn zu fahren oder schulfrei zu bekommen. Als Aaron stirbt, spitzt sich der Generationenkonflikt in der Familie Altaras zu. David hält nichts mehr in Berlin, er verabschiedet sich kurzerhand ins Gelobte Land, und die Erzählerin reist hinterher – auf der Suche nach dem verlorenen Sohn zwischen Klagemauer, Kibbuz und See Genezareth.

 

Auftakt

Adriana Altaras eröffnet ihr Buch mit einem Knüller: Ein nächtlicher Polizei-Einsatz in der Wohnung der Altaras, zwei weise Beamte mit Migrationshintergrund (der dritte sitzt wahrscheinlich im Wagen), Pastakochen, Möbelfachsimpelei und Signieren im Nachthemd. Das erste Kapitel ist rasant, irrsinnig und zu verrückt, um wahr zu sein. Wahrscheinlich ist es auch gar nicht wahr, aber das spielt keine Rolle. Es ist überzeugend erzählt.

Ein starkes erstes Kapitel ist immer eine Gefahr. Eröffnet ein Roman mit einem lauten Knall, muss er die erzeugte Spannung das gesamte Buch über halten. In der „Anekdotenliteratur“ muss jede einzelne Anekdote so gestaltet sein, dass sie der vorhergehenden Anekdote gegenüber nicht allzu stark abfällt. Besser noch wäre es, dem Knall Nachhall zu verschaffen. Altaras gelingt dieser Nachhall, indem sie ihre Denk-, Schreib- und Lacher-Geschwindigkeit hoch hält und sie im Folgenden mit nachdenklichen Passagen würzt, aber nie ihren Anspruch vergisst: Zwerchfell-Muskelkater.

 

Perspektiv-Wechsel

Deutsch-jüdischer Alltag in Deutschland scheint eine sehr komplizierte Angelegenheit zu sein. Wer sich davon überzeugen möchte, der lese das Buch. Gleiches gilt für die Aufzucht pubertierender Testosteron-Bomber. Gepaart ist es eine Bombe: Die Adoleszenz ist eine Phase der Identitäts-Suche, das Judentum in Deutschland ist nach / auf Grund der Shoa ebenso auf der ständigen Suche nach einer eigenen Identität, die mit zahlreichen Widersprüchen umgehen muss.

Altaras erzählt die Konflikte aus verschiedenen Perspektiven: Ihrer eigenen, ihrer beiden Söhne, ihres Mannes und einiger anderer Personen. Besonders anschaulich werden die Konflikte in den Schilderungen von Mutter und älterem Sohn. Die Anlage der Konflikte, die Vermischung von Adoleszenz und jüdischer Identität, deutet wohl eine Hoffnung an: Man kann sich von der Shoa nicht emanzipieren, wie man sich von seinen Eltern emanzipiert. Aber das Judentum in Deutschland beginnt, sich zu emanzipieren: Ihr Sohn liebäugelt heftig mit dem Zionismus aber genauso mit der FDP. Die Frage „Gehen oder bleiben?“, die existentielle Frage aller Juden in Deutschland (nach Altaras) wird zur Adoleszenz-Frage. Am Ende steht eine erfolgreich bewältigte Krise: Ein Fingerzeig auf das zukünftige deutsch-jüdische Verhältnis?

Bei manchem Perspektivwechsel drängen sich weniger existentielle Fragen auf: Ist er wirklich stärker? Seit wann sind Teenager eigentlich so grässlich un-ironisch? Was ist ein „Antosopofe“?

Stärker ist keiner von beiden, das Thema zieht sich aber als roter Faden durch das Buch. Die zweite Frage wird nicht beantwortet, ergibt sich aber aus dem Zusammenhang. Die dritte Frage wird gar nicht gestellt: Seit wann sind Jugendliche so wenig ironisch? Ich war in dem Alter jedenfalls sehr viel ironischer. Alles, was ich gesagt habe, war ernst gemeint, aber so vorgetragen, dass ich es nicht so gemeint hätte.

 

Kleine Schwächen

Ein „Antosopofe“ ist ein Anthroposoph. Das ist die Weltanschauung, die hinter den Waldorf-Schulen steckt, zumindest theoretisch. Praktisch gibt es unter „Antosopofen“ natürlich auch Liberale und Orthodoxe … Mir drängt sich gerade eine Parallele zum Judentum auf, vielleicht müsste ich das Buch dahingehend noch einmal lesen.

Der „Antosopof“ ist die einzige nennenswerte Schwäche des Buches. Also nicht der „Antosopof“, sondern das Stilmittel. Jede der auftretenden Figuren hat einen eigenen Sound, der hier und da nervig ist. Dass die Tante manchmal in italienisch parliert und die Passagen leider nicht übersetzt sind, lässt sich verschmerzen. Die Bedeutung lässt sich aus dem Kontext erschließen.

Nervig ist der Sound der Jugend, das „Schreiben wie gesprochen“. Jugendsprache schön und gut, aber irgendwann „reischt“ es. Zugegeben, das ist Mäkelei auf höchstem Niveau. Die Kapitel der Jugendlichen sind keine Anhäufungen von „Ey“ und „Alda“, aber es wirkt zu oft gewollt lustig, als dass ich die Imitation von Jugendsprache unkommentiert übergehen könnte.

 

So schwer und doch so leicht – Fazit

Das beeindruckendste Kapitel ist der Bericht über eine Fahrt nach Jugoslawien, auf den Spuren der Vergangenheit. Zuerst dachte ich, was das Kapitel soll. Es wirkt zunächst deplaziert im Buch, es ist sperrig, der Ton wechselt abrupt. Doch der Bericht packte mich. Von Zeile zu Zeile wurde er spannender. Adriana Altaras nimmt ihre Leser*innen mit auf eine Reise in ihre Erinnerungen, in Verletzungen und den schmerzhaften Prozess der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Sie beschreibt eine gequälte Seele. Auch wenn der Ton leichter, manchmal regelrecht flapsig wird, dennoch oder gerade deshalb schmerzt ihr Ringen mit den Erinnerungen.

Das Buch stellt die Frage nach einer Möglichkeit angemessenen Gedenkens, dem Umgang mit Verletzungen und wie ein „richtiges Leben im falschen“ möglich sei. Ist es wie bei Adorno, dass es nicht geht? Dann dürfte es nach Auschwitz kein Glück mehr geben, erst recht kein jüdisches Leben im Land der Täter. Doch es gibt Glück, es gibt sogar ein jüdisches Leben mit dem Anspruch auf Glück im Land der Täter. Mit dem glücklichen Leben, belastet von Erinnerungen an die Vergangenheit, muss immer wieder neu gerungen werden, so wie man alltäglich in der Familie miteinander ringt. Adriana Altaras unterhält und stellt nebenbei schwierige Fragen. Sie belehrt nicht, sie regt zum Nachdenken an. Sie lehnt Dogmatismus, Radikalismus und Orthodoxie ab, äußert gleichzeitig Verständnis für die Motive dahinter. Vor Allem aber: Sie unterhält.

Wer unterhalten werden möchte und keine Angst hat, sollte das Buch lesen. Denn letztlich geht es nur vordergründig um jüdische Identität zwischen Kultur, Religion und Deutschland. Adriana Altaras verhandelt die Frage nach der deutschen Identität. Das ist die andere Seite ihrer Suche, die Aufgabe, die sie in ihrem eigenen Forschen dem deutschen nicht-jüdischen Leser zuweist.

 

3 Kommentare zu „Besprechung: Adriana Altaras – Doitscha!

    1. Ist es auch – und das Geile: Dass das so ein komplexes und vielschichtiges und bedenkenswertes Buch ist, merkst du eigentlich erst hinterher, wenn du durch bist. Und jetzt höre ich auf zu schwärmen – ich muss noch mehr Silvestergrüße unter diverse Beiträge spammen. ^^

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