Festgemauert in den Lüften,

Steht sie klamm, die Nebelwand.

Heute müssen Blätter stürzen,

Frisch, ihr Winde! Seid zur Hand.

Aus den Wolken nass,

Tropfts ohne Unterlass.

(Goethe, Rap von der krassen Wetterlage)

Warum nur, warum kommt eigentlich der Herbst insgesamt so schlecht weg? Von den fünf Jahreszeiten ist er das Sandwichkind. Wir alle kennen sicherlich das Volkslied: Es war eine Mutter, die hatte fünf Kinder. Und wir erinnern uns alle, dass die Kinder ihrer Mutter Geschenke gemacht haben:

Der Frühling bringt Blumen,

Der Sommer den Klee,

Der Herbst bringt die Trauer,

Der Winter den Schnee,

Der Karneval den Frohsinn.

Ihr seht, der Herbst ist das Sandwichkind, mitten drin. Und Sandwichkinder sind unausstehliche Plagegeister. Nehmt mal Bruderherz, unser Sandwichkind. Ich stehe kurz davor, beweisen zu können, dass er adoptiert wurde. Weder Nesthäkchen noch ich interessieren uns für Fußball, Bruderherz spielt es sogar. Weder Nesthäkchen noch ich mögen Thunfisch, er zählt es zu seinen Leibspeisen. Weder Nesthäkchen noch ich sehen dem Briefträger ähnlich … Naja, Bruderherz auch nicht, aber auch nur, weil wir eine Briefträgerin haben! Und dass er nervt, habe ich ja schon bewiesen. Zur Erinnerung:

Eisessen

Zurück zum Herbst: Frühling, Sommer und Winter reimen sich, Karneval als Nachzügler unter den Jahreszeiten genießt Narrenfreiheit und darf machen, was er will, aber Herbst verweigert sich der geschwisterlichen Solidarität. Es ist nicht nur das, was er mitbringt, es ist vor allen Dingen seine Reimverweigerung! Wo gibt es das denn, dass eine reguläre Jahreszeit es sich herausnehmen darf, sprachlich nicht in den Zirkel hinein zu passen? Oder auch wortgestalterisch so plump zu sein? Wie schön singt das -ing im Frühling, schnurrt das -er von Sommer und Winter, lallt einen das -al von Karneval volltrunken an, kotzt uns vor die Füße und schunkelt fröhlich weiter? Nein, der Herbst, der endet natürlich auf -rbst. -rbst, das ist der AfD-Laut unter den Jahreszeiten-Endungen. Poltert vor sich hin, ist in der Sache aber nichts halbes und nichts Ganzes. Gibt sich mit dem scharfen S und harten T den Anstrich populistischer Bierzeltseligkeit, wird aber weich und zahm, wenn das R sanft in die Bürgerlichkeit rollt und das B geschmeidig nachgibt, um nicht als Krawallmacher dazustehen.

In dem Gedicht steckt natürlich noch mehr drin. Es ließe sich die Frage stellen, wo der verantwortungslose Vater von Herbst steckt. Aber ich fürchte, die traurige Antwort ist: Der trägt Briefe aus. So ist das ja immer. Die Mütter werden mit den missratenen Kindern allein gelassen. Dabei hat sie sich so viel Mühe gegeben. Sie hat dem Herbst Drachensteigen beigebracht, ihm gezeigt, wie reich er mit Trauben, Äpfeln und Nüssen beschenkt ist – aber was macht das undankbare Blag? Beschwert sich ständig.

„Auf allen Friedhöfen,

ist Ruh‘

In allen Kapellen,

Spürest du,

Des Todes Hauch.

Die Gemeinde schweigt an Allerheiligen,

Allerseelen und Volkstrauertag,

An Totensonntag schweigst auch du.“

Merkt ihr das passiv-aggressive Verhalten von Herbst? Die Phantasien, seine Mutter umzubringen, weil der arme Kerl gleich vier Totengedenktage in seinem Reigen ertragen muss? Was kann man da noch ernsthaft einwenden? Weihnachten gehört schon dem Winter. Was gibt es noch an Festtagen? Ja, es gibt den Martinstag. Das Problem: Martini ist am 11.11. und das ist der Zeugungstag des kleinen Karneval. Der Tag gehörte also mal Herbst, aber dann hat der Knirps im Lumpengewande ihm dieses Highlight abspenstig gemacht. So fördert man Missgunst unter Geschwistern.

Ich kann Herbst ziemlich gut verstehen. Es ist ja nicht genug mit den genannten vier Tagen, hinzu kommen ein paar Unverbesserliche, denen diese vier Trauertage nicht reichen. Zugegeben, Protestanten sind nicht unbedingt für ihren Humor oder für savoir-vivre bekannt. Aber das schlägt dem Fass den Boden aus, dass sie dann noch ihren „Ich geh in Sack und Asche“-Tag, vornehm Omnibus-und-Matratzen-Concord-Arbeitsgemeinschaft, mitten in den November legen.

Ich höre übrigens gerade die Optimisten grummeln, dass Herbst ja wohl keinen Grund hätte, sich zu beschweren, er hat ja auch Erntedank und er hat Halloween. Je nach Zählung hat er auch Anteil an der Adventszeit. Da spricht geballte Blau-Äugigkeit. Denn diese Rosa-Brillen-Faschisten verkennen, was diese Tage für Herbst bedeuten. Fangen wir mit Erntedank an.

Herbst war mal ein geselliges Kind. Herbst spielt gern verstecken. Und was ist zum Verstecken besser geeignet als ein golden leuchtendes Kornfeld? Richtig, nichts! Was geschieht an Erntedank? Da dankt man für die gute Ernte! Was bedeutet das für Herbst? Die blöden Bauern rauben ihm seinen Spielplatz. Und im Wald kann man auch kein Verstecken mehr spielen. Überall rennen Pilzsucher herum und verpfeifen einen. Selbst in den Baumkronen kann er sich nicht verstecken, denn sobald Herbst in eine der Kronen klettert, werfen die blöden Bäume ihre Blätter ab und geben den Blick auf die traurige Gestalt frei.

Advent? Die Zeit der Besinnlichkeit! Ja, so schallt es. Aber was soll Herbst sagen? Karten müssen geschrieben, Plätzchen gebacken und Geschenke in überfüllten Einkaufsstraßen erworben werden. Da bleibt keine Zeit für Besinnlichkeit! Nicht einmal die Lebkuchen hat er für sich allein, die muss er mit Sommer teilen, diesem gierigen Gesellen. Hat nicht nur das tolle Wetter, hat auch einen Vertrag mit dem Einzelhandel geschlossen. Der Strahlemann ist halt der bessere Vermarkter. Wer will schon mit dem stets grambeladenen Herbst Geschäfte machen, wenn er mit Sommer kooperieren kann?

Und Halloween? Ach, Halloween. Ja, Herbst mochte dieses Fest. Auch wenn er es gemein findet, dass die blöden humorlosen Protestanten an dem Tag auch noch ihren witzbefreiten Reformationstag feiern und zu allem Überfluss aus voller Kehle dazu den Stahlhelm unter den Kirchenliedern schmettern. Da verschwimmen die Unterschiede zwischen Kirchenbank und Schützengraben ganz schnell.

Wie gesagt, Herbst mochte Halloween trotzdem. Da war nur ein Problem. Als Herbst noch klein war, wollten Frühling und Sommer ihn nie mitnehmen auf ihre „Trick or treat“-Tour, weil: „Der kleine Scheißer hält uns nur auf, dann schaffen wir doch unsere Tour nicht.“ Als Herbst dann älter war, waren Frühling und Sommer zu alt für „So einen Kinderkram“ und der arme Herbst, mit wem sollte er losziehen? Freunde hatte er ja ohnehin nie, weil er immer so trüb wirkt. Sein Vater trug Briefe aus – und Mutter war schon wieder schwanger, hatte also keine Zeit. Und dann, ja dann, als Winter und Karneval ein wenig größer waren, was schlug die blöde Mutter vor? Statt mit Herbst auf Tour zu gehen, meint sie, er solle doch mit den beiden kleinen Rotznasen losziehen, die daran schuld sind, dass sie jahrelang keine Zeit für den armen Herbst hatte. Aber da war es vorbei mit seiner Freude an Halloween. Stattdessen beschränkte Herbst sich fortan darauf, regelmäßig am 31.10. die Türklingel unter Strom zu setzen, seine persönliche Variante von „Trick or treat“. Und Laub verteilte er auf den Gehwegen. Dann lauerte er hinter dem Fenster und lächelte hämisch bei jedem Stromschlag und Oberschenkelhalsbruch.

Kann man Herbst dafür verurteilen, dass er so eine missratene Jahreszeit geworden ist? Ich finde, wir sollten ihm mehr Verständnis entgegenbringen. Seine Eltern haben seine Kindheit so gründlich verpfuscht, dass dem Herbst gar nichts anderes übrig bleibt, als so trostlos daher zu kommen:

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14 Kommentare zu „November

  1. Diese Story ist an Genialität kaum zu überbieten! Well done, Zeilenende!

    Darauf lasst uns ( nach einer kurzen, versöhnlichen Schweigeminute ) ein eurythmisches rbst tanzen 😀

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  2. griiiins….dein Bruder muss nunmal alle Register ziehen, um sich von euch abzugrenzen, damit es nicht so langweilig wird 😉

    Für mich ist der November auch der Totenmonat, war schon immer so.

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    1. Für mich ist er eher ein lebendiger Monat, gerade wegen der Toten. Ich habe von meinem Zimmer aus Blick auf einen katholischen Friedhof. Am lebendigsten sieht der in den Novembernächten aus, wenn unzählige Grablichter brennen.

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