Ich arbeite ja nicht nur mit alten Menschen, manchmal lässt man mich auch auf Grundschüler los. Dabei habe ich heute einen sehr weisen Mann von gerade einmal acht oder neun Jahren kennengelernt, sozusagen mein jüngeres Selbst.


In Kürze, was ich tue: Museum und Bibliothek werden zu einem gemeinsamen außerschulischen Lernort unter dem Thema „Kaiserzeit – Freie Kinderzeit“. In Wirklichkeit ist der Titel noch dämlicher, aber so oder so ähnlich hätte er wohl geheißen, wenn ich den PR-Menschen der Stadt gefragt hätte. Da habe ich mich für die sperrige, aber treffende Variante entschieden. Die Kinder lernen ihre Stadt und einige fiktive Kinder in wilhelminischer Zeit kennen und erarbeiten eine Spielkarte der Stadt. Mit dem Ergebnis, dass die ganze Stadt ein Spielplatz ist, lernen die Kinder anschließend Kinderbuchklassiker als solche kennen. Das macht mir immer am meisten Spaß, weil die Kinder immer denken, die Biene Maja sei modern oder zumindest deutlich jünger als Michel aus Lönneberga. Für die Kinder ist der krönende Abschluss das Ausprobieren alter Spiele auf dem Marktplatz. Manche Spiele kennen sie, manche nicht, aber am meisten Spaß haben sie am Toben in der Öffentlichkeit. Und die Passanten finden es auch durchweg super.
Heute hatte ich eine schwierige Klasse. Oder schwierige Umstände. Oder beides. Denn es regnete wie aus Eimern und wir mussten drinnen bleiben, den Ausweichplan umsetzen. Die Klasse war so laut, dass meine Kollegin vom Infopunkt kam, weil sie die Menschen am Telefon nicht verstehen konnte. Da muss ich wohl bei Gelegenheit einen Kuchen springen lassen. Mit Ermahnungen und einem gehörigen Anpfiff der Lehrerin haben wir die Meute einigermaßen bändigen können.

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Früher war nicht alles besser, da gab es noch nicht einmal Farbe.

Am Ende ein kleines Blitzlicht, aber mit zwei Sätzen statt einem: „Mir hat nicht gefallen … und  mir hat gefallen …“ . Klar, die Kinder fanden alles toll, insbesondere das Murmelspielen auf den armen Eichendielen. Erstaunlicherweise fanden aber zwei Kinder auch die Kinderbücher toll, die werden sonst als „ganz nett, aber nichts im Vergleich zum Spielen“ eingestuft. Nicht weiter überraschend war indes, was den Kindern durchgängig nicht gefallen hat. Okay, allen außer Zweien. Der eine fand es doof, dass ich ihm verboten habe, die Murmeln eine Treppe runterzuwerfen, der andere fand doof, dass ich weder mit der Praktikantin in meiner Begleitung verheiratet bin, noch die Lehrerin heiraten wollte. Alle anderen fanden es doof, „dass es so laut war“. Klar, das habt ihr ja auch gesagt bekommen, dass das doof war. Das Cleverle, das mich mit seiner Lehrerin verkuppeln wollte kam nach der Blitzlichtrunde dann nochmal zu mir.
„Weißt du, was ich komisch finde?“ Ich wittere einen weiteren Verkuppelungsversuch. Etwas misstrauisch gehe ich in die Hocke, um ihm auf Augenhöhe zu begegnen. „Nein, was denn?“ „Also, die sagen alle, dass es doof war, dass es so laut war. Aber dabei waren die doch alle laut. Wenn die das doof finden, warum machen die das dann?“ Ich lächele still in mich hinein. Ein angehender Eulenspiegel, der die Leute schon jetzt durchschaut und ihnen vielleicht in Zukunft den Spiegel vorhalten wird. Ich klopfe ihm anerkennend auf die Schulter. „Vielleicht hat es sie wirklich gestört und sie haben nicht gemerkt, dass sie auch laut geworden sind.“ Er schüttelt den Kopf. „Nein, sie sagen: Alle waren Schuld außer ich. Das machen immer alle.“ Ich bin sprachlos vor so viel Weisheit in jungen Jahren. Denn um Missverständnisse auszuräumen, er sagt das weder vorwurfsvoll noch verbittert, er stellt es einfach nur fest.  „War mir ein Vergnügen, dich kennen gelernt zu haben, cleverer junger Mann. Ich hoffe, wir sehen uns mal wieder.“ sage ich und schüttele einem Kind so ernst die Hand wie schon lange niemandem mehr.

9 Kommentare zu „Cleverle

    1. Herdentrieb ist ganz oft die Erklärung für das Eine, Sozialisation für das Andere, aber ich kenne die Schüler für eine passende Diagnose nicht gut genug. Es gibt im Club der toten Dichter dazu die schöne Szene: Die Schüler sollen über den Hof schlendern und verfallen irgendwann in Gleichschritt, die umstehenden Schüler beginnen, im Rhythmus der Schritte zu klatschen. Sich dagegen zu wehren ist schwer, umso beeindruckender fand ich die Erkenntnis vom Cleverle.

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