Mal wieder Zeit für ein wenig Altersheim-Feeling im Blog. Ich habe das Thema schleifen lassen, weil es so viel anderes zu erzählen gab, aber es gibt noch zwei Sprachregelungen, die mich haben staunen lassen. Beide hängen zusammen, die eine betrifft nämlich Nahrungsaufnahme, die andere deren Ausscheidung. Heute bin ich mehr für Ausscheidung.
Es gibt in der Philosophie das schöne Argument, dass die Bedingungen für Lebensanfang und Lebensende gleich sein müssen. Das nennt sich Symmetrie-Argument und wird (oder wurde zumindest) u. a. von Hector Wittwer vertreten. Das Argument kann auf unterschiedliche Art gedeutet werden, ich finde in diesem Zusammenhang die Vorstellung spannend, dass sich daraus ableiten lässt, dass der Weg vom Lebensanfang weg und zum Lebensende hin gleichartig gestaltet sein müsse, das Leben als ein Halbkreis vorgestellt werden kann.
Als Kind klappt das noch nicht so mit der Kontrolle über die Ausscheidungsfunktionen. Deshalb trägt Kind Windeln. Irgendwann lernt Kind dann aufs Töpfchen zu gehen und noch irgendwann später lernt zumindest der junge Mann die Königsdisziplin des Klobrillenbepinkelns. Im Alter lässt die Fähigkeit häufig wieder nach. Erst trifft man die Klobrille nicht mehr, sondern pinkelt vor die Toilette und spätestens wenn auch das nicht mehr klappt, ist es Zeit wieder Zeit für die Windel.
Windel? Moment! Nie davon gehört im Arbeitsalltag. Dafür musste ständig dieses ominöse Inko-Material, das es in verschiedenen Größen und Stärken gab, nachbestellt werden. Ich habe lange gebraucht, um zu begreifen, dass Inko-Material Inkontinenz-Material heißt und es sich dabei um Windeln handelt. Aber das Altenheim ist eine eigene Welt für sich mit eigenem Sprachgebrauch.
Ich frage mich bis heute, was daran so entwürdigend ist, dass die Dinger nicht auch im Alter Windeln heißen. Umgekehrt: Ist es nicht auch für Kinder entwürdigend, dass sie Windeln tragen müssen? Sollten Kinder nicht auch Inko-Material bekommen dürfen? Inko-Material ist ein Verschleierungsbegriff, weil sich niemand etwas darunter vorstellen kann, der zufälligerweise davon hört, wenn er vorbei läuft und zwei Pflegekräfte sich darüber unterhalten, dass das Inko mal wieder leer ist. Mein Beitrag ist damit womöglich kontraproduktiv, weil ihr jetzt wisst, dass die Person, über die gesprochen wird, Windeln trägt. Aber mal ehrlich: Das mit der mangelnden Kontrolle über die eigene Ausscheidung ist doof, aber das gehört einfach dazu. Der verschleiernde Begriff mag was mit dem Versuch zu tun haben, die Würde der Betreffenden zu schützen.
Andererseits ist es auch ein Zeichen mangelnden Respekts vor dem Alter als eigener, pflegebedürftiger Lebensform. Inko-Material ist ein technischer Begriff. Inkontinenz ist ohnehin ein fachsprachlicher Ausdruck, der auch noch verkürzt wird. Das geschieht in technischen Fachsprachen häufig. Da wird aus dem Maulschlüssel einer gewissen Größe auch einfach der 14er, weil der lange Terminus zu umständlich ist. Und mit Material hat man vor Allem in verarbeitendem Handwerk und der Industrie zu tun. Das Inko-Material ist ein Werkzeug, damit wird die Inkontinenz geflickt, der alte Mensch in seiner Würde geschützt, aber zugleich zum Gegenstand der Tätigkeit reduziert.
Mit der Windel, in die er gewickelt wird, hat das eine ganz ähnliche Bewandnis. Wir haben es hier mit einem verbalen Autonomieverlust zu tun, weil der Betreffende wie ein Kind ist. Andererseits würde damit sprachlich nicht bloß ein tatsächlicher Autonomieverlust als solcher gekennzeichnet (die Leute pinkeln sich nunmal in die Hosen), das Wickeln des Kindes ist meiner Beobachtung nach ein sehr zugewandter und liebevoller Vorgang. Das ist das „Anlegen des Inko-Materials“ in praxi auch, aber sprachlich ist es ein technischer Vorgang, der mit Würde nicht viel zu tun hat.
Was geschieht hier also? Wir haben es mit einer gewissen Symmetrie zu tun. Säuglings- und Alters-Stadium werden dadurch nicht gleich, aber doch sehr ähnlich. Ich verstehe, dass „Windeln“ unangemessen sind, weil das Ähnliche gleich gesetzt wird. Inko-Material hat aber nicht allein den technischen Klang, den ich soeben besprochen habe, er verschleiert zugleich einen recht häufigen Verlust im Alter. Das Alter wird damit verborgen, als eigenständige Lebensform des Menschen entwertet, seine „Defizite“ als technisch zu lösende Probleme wahrgenommen.
Sich der Realität zu stellen ist in meinen Begriffskritiken zum Alter immer ein zentrales Anliegen. Von daher halte ich nichts davon, von Windeln oder Wickeln zu sprechen, weil hier eine Fähigkeit verloren gegangen ist, die Kinder einfach noch nicht haben. Für alte Menschen ist das durchaus schambehaftet. Man könnte deshalb auch Binde, Einlage, Schutzhose oder Katheter (der gehört auch zum Inko-Material) sagen. Macht die Sache allerdings auch komplizierter. Inkonsequent hingegen ist, so wie hier, darauf hinzuweisen, dass der Begriff Windel deplaziert sei, nur um an nächster Stelle doch ständig von Windeln zu sprechen. Ich halte es im Zweifel dann doch für besser, die Dinger „Windeln“ zu nennen und den Umgang damit zu entkrampfen. Sie sind ein Hilfsmittel, um seinen Alltag unabhängiger gestalten zu können, von daher muss man seine Windel nicht mit Stolz tragen, aber doch selbstverständlich. Das Umfeld sollte die Windeln ebenso als selbstverständlich hinnehmen. Selbstverständlich hinnehmen und etwas explizit ansprechen sind ja nunmal zwei Paar Schuhe. Frauen in den Tagen müssen auch manchmal auf die Toilette, die Binde wechseln, da gibt es kein großes Gerede, das Zeug wird sogar offensiv beworben. Frau muss aber nicht sagen „ich gehe mal die Binde wechseln“. Alter Mensch, wenn er das Inko-Material nicht selbstständig wechseln kann, kann darum bitten, dass jemand als Hilfe mit auf die Toilette kommt, dafür gibt es auch die verschiedensten Gründe. Muss ja nicht die Windel sein, kann ja auch sein, dass man den Hosenknopf wegen mangelnden Gefühls in den Fingern nicht mehr auf oder zu bekommt.
In die Verlegenheit, vom Inko-Material zu sprechen, kommt man im Umgang mit alten Menschen also zumeist in der intimen Situation von Pflegeperson und altem Menschen. Und dann kann man das Ding doch wieder konkret beim Namen nennen: Katheder, Einlage, Schutzhose, … Das ist eine Sache nur zwischen den beiden Betroffenen. Aber Inko-Material? Das ist ein Begriff, den ihr schön auf euren Bestellscheinen lassen solltet. Den braucht man nicht einmal im Flur vom Zimmer der betreffenden Person.
Ein Kommentar zu „Lexikon: Inko-Material“