Früher war Kindheit einfach weniger scheiße…

Früher war alles besser,
da war ein Buch noch aus Papier,
da waren alle Nächte länger
und noch Alkohol im Bier.

(Saltatio Mortis, Früher war alles besser, 2013)

Es begab sich aber zu der Zeit, als Zeilenende im Fitness-Studio war und ein Lamento wahrnahm, das ihm ein Grinsen ins Gesicht zauberte. Alte Leute, die sich darüber echauffierten, dass ihre Enkel-Generation die Urenkel-Generation total verwöhne und aus denen eine ungezogene und übermäßig verwöhnte Brut würde.

Zeilenende fühlte sich an ein Zitat erinnert, das bereits dem Sokrates zugeschrieben wird, von wegen ungezogene Jugend, die so natürlich herangezogen wird. Dem ist nicht allein zu entgegnen, dass das SO von Sokrates nicht überliefert ist (der selbst überhaupt keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen hat) und sich sinngemäß zwar beim platonischen Sokrates findet, aber mir ist es nur als eine Stelle aus der Politeia bekannt. Bei Bedarf schlage ich es gern nach, müsste irgendwo im 8. Buch sein, wo es um die Staatsformen geht … und dementsprechend einem sehr umstrittenen Theoriestück entstammt.

Aber ich wollte euch eigentlich gar nicht mit Philosophie langweilen, sondern mit dem Konkreten. Frau N., geschätzte 250 Jahre alt, fiel fast vom Glauben ab, als sie erfuhr, dass Kinder zur Einschulung nicht bloß eine, sondern mehrere Schultüten bekommen. In ihrer Kindheit hätte es so etwas ja nicht gegeben. Nun ist Frau N. wohl noch keine 250, aber knapp 80 Lenze zählt sie schon, geboren also irgendwann Ende der 30er, Einschulung entweder im Krieg oder in der Trümmerzeit. Natürlich freute sie sich über Nüsse, Äpfel, Mandarinen und ein paar Kekse. Ebenso wie das Weihnachten ein Highlight war oder als Geburtstagsgeschenk, zusätzlich zu Socken oder einem Puppenkleid, etc. pp. Ihr kennt solche Geschichten sicher.

Dann gedachte sie der Kindergeburtstage ihrer Kinder: Topfschlagen, Blinde Kuh, Schnitzeljagd, … Heutzutage? Erlebnisbad, Freizeitpark, Kletterhalle, Indoorspielplatz, Kartbahn und McDonalds. Wo soll das denn hinführen, wenn die Kinder alles hinten rein geschoben bekämen?

Ja, wo soll es hinführen? Das allgemeine Muster ist klar: Man schenkt den Kindern etwas Besonderes. Zur Einschulung ist in der Schultüte eben Süßkram drin, vielleicht auch elektronische Unterhaltung (bei mir hat es noch ein Dinosaurier aus Plastik getan, aber Spielzeug war auch drin). Aber gleich mehrere Tüten? Ich sage: Warum nicht? Ich habe zur Einschulung zwar nur eine Schultüte von meinen Eltern bekommen, aber von meinen Großeltern gab es eine Uhr und eine Kette. Beides habe ich heute noch, die Kette trage ich sogar bis heute gelegentlich.

Die Schultüte, nur zur Erinnerung, ist lediglich die Verpackung. Das Geschenk darin dient dazu, einen besonderen Tag zu würdigen. Das Geschenk steht immer in Relation zum Beschenkten wie auch zum Schenkenden. Wer wenig hat, schenkt wenig, das Geschenk wird nach Augenmaß gewählt, was für den zu Beschenkenden angemessen ist.

Das Angemessene hängt nun vom relativen Wohlstand des Umfeldes ab. Wenn viel vorhanden ist, wird eher das Außergewöhnliche geschenkt. Frau N. bejammert, dass die Kinder verwöhnt wurden, aber das wurde sie zur Einschulung auch mit außeralltäglichen, obstigen Genüssen. Die Relation bleibt gleich. Wenn Frau N. also jammert, kann sie sich nur den Mangel zurück wünschen, dass Mandarine und Paranuss wieder etwas Besonderes wird. Aber wollen wir das wirklich?

Maßhaltung ist ein schwieriges Feld und man kann berechtigterweise darüber streiten, ob man einem Kind zur Einschulung eine Spielkonsole schenken muss. Aber wenn nicht nur die Eltern und Großeltern dem I-Dötzchen was gutes tun wollen, sondern auch die Paten, was ist so falsch daran, dass auch sie eine Zipfeltüte packen und Süßkram reinpacken. Im schlimmsten Fall wird das Kind fett, aber fette Kinder sind schwieriger zu kidnappen. Das eigentliche Problem sind aber weniger die besonderen Anlässe, es ist der alltägliche Umgang: Immer jeden Wunsch sofort erfüllen zu wollen und den Kindern ständig etwas zu bieten, treibt die Anspruchshaltung hoch.

Kindergeburtstage sind dafür ein schönes Beispiel, das hat Frau N. ja im gleichen Atemzug genannt. Ich spiele regelmäßig alte Kinderspiele mit Grundschülern. Ich habe bislang noch nie erlebt, dass die Kinder, im Durchschnitt 9 Jahre alt, das irgendwie doof finden. Im Gegenteil: Die sind schwer enttäuscht, wenn der Vormittag vorbei ist und sie nach Hause müssen. Warum ist das so? Meiner Meinung nach liegt es daran, dass die Kinder sich nicht mehr in großen Mengen zusammen rotten, um einfach mal zu spielen. Das ist ein Grund, keine Ursache, auf tiefergehende Spekulation mag ich mich an dieser Stelle nämlich nicht einlassen.

Der Kindergeburtstag mit Topfschlagen funktioniert immer noch, wenn Eltern bereit sind, Energie in die Vorbereitung zu investieren und den ganzen Nachmittag mit einer Meute nervtötender Rotznasen verbringen. Die Einschätzung, dass man Kindern damit nicht mehr zu kommen brauche, die Frau N. vertritt, teile ich durchaus nicht.

Der Besuch des Freizeitparks mag spektakulärer klingen, aber er ist vor allen Dingen einfacher. Es geht nur auf den ersten Blick darum, dem Kind etwas Besonderes zu bieten, es geht darum, dass die Eltern entlastet werden wollen. Dass so ein Ausflug teuer ist und die Kinder dadurch über Gebühr verwöhnt werden, dürfte den meisten Kindern nicht bewusst sein. Wer weiß als 9jähriger denn bitte, wie teuer der Eintritt für den nächsten Freizeitpark ist? Ich musste gerade selbst nachgucken. Für Kinder 24€, für Erwachsene 45€ … Happiger Preis, gell? Andererseits sparen die Eltern auch mind. einen Nachmittag Vorbereitung. Ist eine Frage der Kosten-Nutzen-Aufstellung.

Aber ich bin auch nicht gegen solche Events. Ich finde es super, wenn Eltern mit ihren Kindern auch mal so etwas machen, genau so wie ich den „traditionellen“ Kindergeburtstag super finde. Es ist nicht verwerflich, es sich einfach zu machen, wenn man genug um die Ohren hat, weil beide Elternteile berufstätig sind, eine Deadline näher rückt, die halbe Kollegenschaft krank ist, oder oder oder. Für die Kinder zählt in erster Linie das Besondere, die außeralltägliche Erfahrung, die ihnen zeigt: Hey, das ist heute dein ganz besonderer Tag! Das ist das Prinzip, das sich durchzieht.

Jede Zeit hat ihre besonderen Ausdrucksformen. Das Besondere ist immer nur im Kontext des jeweils aktuell Gewöhnlichen besonders. Wer sich darüber beschwert, dass das Althergebrachte entwertet würde, muss sich an die eigene Nase fassen und sich die Frage stellen, wie er oder sie sich selbst verhält. Frau N. fährt drei Mal im Jahr im Urlaub. Wird dadurch nicht das Urlauben total entwertet? Eine Urlaubsreise im Jahr muss dann doch mindestens auf die Malediven gehen. Früher ist man höchstens einmal im Jahr mit dem Zelt campen gefahren. Soweit ich weiß, gibt es bei N.s recht häufig Fleisch zum Mittagessen. Früher hat es das auch 2x die Woche getan (der Braten zum Sonntag und die Reste am Montag).

Ja, wir leben in einer Gesellschaft, in der vieles, was früher Luxus war, selbstverständlich ist. Aber das Bedürfnis, sich etwas besonderes zu gönnen, besteht immer, weil es immer ein relatives Bedürfnis ist. Das Luxuriöse muss sich damit immer mal wieder andere Ausdrucksformen suchen und ist dabei Moden unterworfen. Die Sache mit dem Kaviar war meiner Wahrnehmung nach ein Luxus der 70er, der heute nicht alltäglich geworden, aber auch nicht mehr typischer Luxusartikel, sondern einfach weitestgehend aus dem Konsumleben entschwunden ist, weil Fischeier eben doof sind.

Das ist kein Plädoyer für die Gesellschaft wie sie ist, aber ein Plädoyer für weniger Verklärung der Vergangenheit. Die Jugendzeit von Frau N. war, lösen wir uns von ihrer individuellen Wahrnehmung, sicher alles, aber keine schöne Zeit, sondern eine Zeit von Mangel, ungesunder Ernährung, materiell unsicherer Zukunft und ihre vielbeschworenen Mandarinen kein Zeichen von Bescheidenheit sondern sichtbares Zeichen des Mangels, den man damals nur als gegeben hingenommen hat – und heute nostalgisch verklärt, um erklären zu können, wieso die eigene Kindheit nicht schlecht war. Das macht sie aber noch lange nicht gut. Oder, um den Bogen zum Anfang zurückzuschlagen, mit Saltatio Mortis gesprochen:

18 Kommentare zu „Früher war Kindheit einfach weniger scheiße…

  1. Ach ja.
    Mir geht es selber so. Ganz einfach, weil ich bemerke, dass alles seinen Wert verliert, steht es immer zur Verfügung.
    Rückbesinnung tut Not.
    Dankbarkeit für die Dinge des täglichen Lebens fehlt.
    Es werden harte Zeiten kommen.

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    1. Ich sehe das genau so, dass wir uns zukünftig einschränken müssen. Ich denke nicht, dass es härter wird, es wird lediglich anders, denn Gesellschaften sind nicht statisch. Wenn sie an der Oberfläche erstarren, brodeln sie im Untergrund. Die Wende in Deutschland ist dafür ein ebenso positives Beispiel wie der Krieg in Syrien ein negatives ist. Und auch die globalen Fluchtbewegungen sind ein Ausdruck gesellschaftlicher Dynamik.
      Ob wir uns rückbesinnen müssen, weiß ich nicht. Wenn wir in der Geschichte nach Lehren suchen wollen, müssen wir zugleich nach vorn blicken, weil wir uns in die Zukunft bewegen und das heißt: Andere Bedingungen und Umstände als damals. Ist wie beim Kuchen backen: Wenn ich einen Kuchen wie früher backen will, aber kaum Butter für den Mürbeteig habe, muss ich mir was anderes überlegen. Wenn es dennoch Kuchen sein soll, muss ich umdisponieren und einen Hefeteig machen. Am Ende gibt es wie früher Kuchen, aber nicht den gleichen Kuchen.
      Die Dankbarkeit für Mandarinen bringt uns also nicht weiter, weil die Bedingungen für Dankbarkeit früher andere waren (Mangel). Heutzutage können wir dafür immer noch dankbar dafür sein, aber aus anderen Gründen, vielleicht weil sie aus dem eigenen Wintergarten stammen. Von daher finde ich Frau N.s Ansichten ja grundsätzlich sympathisch, aber die Motivation ist mir suspekt.

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        1. Ich würde es nicht klug nennen, ich sehe die Welt einfach anders. Manchmal komme ich dabei auch auf sehr dumme Gedanken. Und ich scheitere dafür regelmäßig an technischen Dingen … Falls du den Emoji-Beitrag vermisst, den wollte ich nur planen, der muss nämlich nochmal Korrektur gelesen werden. Deshalb ist er wieder weg. Die letzten Updates der WordPress-App treiben mich zunehmend in die Verzweiflung.

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  2. Off topic: Den Artikel hier habe ich noch gar nicht gelesen, aber den über Emojis. Als ich dann meinen Kommentar fertig getippt hatte, verschwand er. Seltsam, denn ich kann ihn auch nicht mehr öffnen. Da steht nur „Hups, kein Inhalt gefunden!“ 😱

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    1. Japp, den habe ich nur planen wollen. Und weil die aktuelle WordPress-App alles aber nicht gut gemacht ist, war er plötzlich online. Ich hab den Beitrag nämlich noch nicht auf zumindest die gröbsten Tippfehler durchsucht. Aber er kommt noch, versprochen. 🙂

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  3. Nur zu genüge kenne ich die Aussprüche der vorigen Generation. Es wird auch gern auf der übermäßigen Freizeit herumgehackt, die heute jeder hat. Früher mußten wir vor Sonnenaufgang zu Fuß zur Schule, und kamen abends erst wieder. Da war nix mit Freizeit. Und dann mussten wir noch auf dem Feld helfen (oder sonstwo). Zu unserer Zeit gab es keine Freizeit. Außerdem haben es die Kinder ja heute sowieso viel viel einfacher.“ So bleiben diese Aussagen denn im Raum stehen, denn es ist so herrlich bequem, das Vergangene zu idealisieren, um die Gegenwart zu verfluchen.

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    1. Ich sträube mich es Werteverfall zu nennen, es ist zunächst mal nur ein Wandel, so wie in der Sprache auch. Früher war es das Französische, heute entlehnen wir Dinge dem Englischen. Ob das gut oder schlecht ist, hängt viel zu sehr vom Einzelfall ab. Die Problemlage ist dafür entschieden zu komplex. Je weniger Kinder bspw, desto mehr Zuwendung erhält das eine Kind. Das ist durchaus auch super, führt nur eben zu höheren Ansprüchen, weil sich die Relation ändert.

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      1. Ja-a…😳😜

        Wobei Dein Szenario ja noch harmlos ist, wie ich finde….mittlerweile scheint es so zu sein das es immer mehr aufwendige Motto Parties gibt für die Kiddys…und eine Mutter will die andere Mutter übertrumpfen….bis hin zu sauteuren Motto Torten, die auch sehr aufwendig sind….da verblasst doch irgendwie dieses „Komm wir feiern ein Fest, weil es so schön ist das Du geboren bist“….und….äh….irgendwie….ist dann die Hauptperson…äh…nicht so wirklich der Mittelpunkt….hm….

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        1. Ja, eben weil es so harmlos ist, eignet es sich ganz gut für Illustrationen. Ich denke nämlich, dass es den Eltern in meinem Fall um die Kinder geht, sie nur auf ihre Ressourcen Rücksicht nehmen müssen. Den Exzess gab es sicher auch in Frau N.s Vergangenheit, genau so wie es Kinder gibt, die Freude an Mottopartys haben. Ich mag einfach diesen pauschalisierten Werteverfall nicht, der ist nämlich so alt wie die Menschheit.

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          1. Ja, und die Menschheit entwickelt sich und somit ist jeder Teil des gesellschaftlichen Wandels….sich dagegen zu stemmen bedeutet sich über Stau aufzuregen, obwohl man grad selber Stau ist….😜

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  4. eine Mandarine und eine Paranuss sind etwas besonderes, damals wie heute 😉
    ich stelle es mir lustig vor, wenn demnächst hinter jedem i-Dötzchen ein Robotor mit 10 Schultüten hinterherzottelt, aber gut, so wird es werden können. Die Herausforderung besteht darin, Achtsamkeit und Wertschätzung generationsübergreifend lebendig zu halten. DArauf Aufmerksam zu machen, könnte die positive Absicht der Frau N. gewesen sein 😉

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