Proust-Fragebogen: Was ist für Sie das größte Unglück?

Heute ist Dienstags-Montag und ich kann mit Buchfresserchens Montagsfrage nichts anfangen. Ich habe kein Lieblings-Pärchen in der Literatur, die meisten Pärchen der Literatur nerven als Pärchen, wenn man sie eine Weile begleitet (Ron und Hermine, Bella, Edward und Jacob, Effie Briest und Mann bzw. Lover, …) oder sind ein Team (Sherlock und Watson, Pendergast und d’Agosta, Hornblower und Bush, …) und kein Pärchen. Deshalb greift wie immer Plan B und mein langfristiges Projekt Proust-Fragebogen, ein Spiel aus den Pariser Salons zum gegenseitigen Kennenlernen, wird um einen weiteren Baustein erweitert. Sehen Sie heute: Zeilenendes größtes Unglück. Nachträglicher Einschub: Mit einem schlechten Gefühl, weil ich mich mit mir und meiner kleinen Welt beschäftige, statt mich der großen, wichtigen gesellschaftlichen Dinge zumindest schreibend anzunehmen.

Die Antwort ist naheliegend: Wenn aus dem Zeilenende ein Buchende wird. Aber das hat nur das Niveau eines Bonmots. Ich deute die Frage so, dass es nicht um ein einzelnes Ereignis sondern um einen Zustand geht. Glück, nicht im Sinne von glücklich, sondern glückselig, lässt seine Bedeutung am Besten über die Negation erschließen: Pech meint das einzelne Ereignis und ist immer relativ zur jeweiligen Situation. Derzeit wäre mein größtes Pech, wenn meine Studienplatzbewerbung scheitern würde, aber dann käme es im nächsten Semester zu einem neuen Anlauf. Unglück hingegen ist das Gegenteil der Glückseligkeit, ein dauerhaft deprimierender Zustand, der zumindest in Form der meine Vorstellungen tragenden Motive recht konstant durch die verschiedenen Lebensphasen hindurch ist.
Unglück ist nicht bloß die Abwesenheit von Glückseligkeit, es gibt eine Vielzahl von unbefriedigenden Zuständen, die graduell vom Idealzustand abweichen, Unglück aber ist mehr. Es ist nicht erst die Unmöglichkeit der Erreichung des Zustandes von Glückseligkeit, das wäre vom Unglück wohl zu viel verlangt. Aber es ist nicht weit von diesem Zustand entfernt und bedarf umfassender Modifikation der Glückseligkeitsvorstellung, um noch eine Perspektive zu haben.
Doch nun Butter bei die Fische, wie mein alter Lateinlehrer zu sagen pflegte. Ich beschwere mich nicht umsonst häufig über meine Familienbande. Es geht mir nicht in erster Linie um mangelnde Rückzugsmöglichkeiten, das ist ein Teilaspekt, aber Einsamkeit ist dann doch zu viel für Glückseligkeit. Ein gesunder Abstand zu Menschen reicht, sodass ich ihnen aus der Ferne noch zuwinken kann.
Ich würde sagen, mein größtes Unglück ist Abhängigkeit. Der Begriff eignet sich als Motiv und ist an verschiedene Lebensphasen adaptierbar. Ich würde mich derzeit nicht als unabhängig bezeichnen, aber ich habe zahlreiche Freiräume. Es sind nicht genug, aber man hat sich stets zu arrangieren, sodass es erträglich ist. Und es sind auch schon die Kleinigkeiten: Der Garten und die Kräuterbeete sind eine Form der Unabhängigkeit. Natürlich bin ich von meinen Chefs abhängig, aber sie geben mir viel Raum, nicht nur Ideen zu entwickeln, sondern auch meine Ideen auszuprobieren. Sollte ich irgendwann auf die absurde Idee kommen, meine Einstellungen über Partnerschaft (nur wenn einer häufig auf Montage geht) oder Kinder (nur erträglich, wenn man sie bei Feierabend wieder zurückgeben kann und selbst dann nur in homöopathischer Dosis) zu revidieren, ließe sich eine neue Form von Unabhängigkeit finden, in der Form: Wir sind unabhängig.
Das Gegenteil, die Abhängigkeit. Ich ärgere mich schon, wenn ich meine Mutter bitten muss, mir etwas zu kochen, weil ich so spät von der Arbeit zurück komme, dass ich zu müde und hungrig bin, um noch etwas zu kochen. Das größte Unglück ist, wenn die Freiräume marginalisiert werden. Wenn man fremdbestimmt ist, egal ob durch eine kontrollierende Instanz (paranoider Chef, obsessive Angehörige) oder durch Unzulänglichkeiten (von Inkontinenz bis Querschnittslähmung ist da viel Raum), das spürbare Angewiesen-sein auf andere Menschen, kaum überwindbare Abhängigkeit, das ist mein größtes Unglück. Ich nehme zwar nicht oft Hilfe in Anspruch, aber wenn ich etwas nicht weiß oder kann, tue ich es, weil es viele Dinge gibt, die ich weiß und kann. Für die Inanspruchnahme existentieller Hilfe würde ich mich schämen und es würde mich mehr als nur Überwindung kosten, sie in Anspruch zu nehmen.
Wie ist es mit euch? Mir ist klar, dass das Leben immer der Austarierung von Abhängigkeiten bedarf, aber bei allen Zwängen hat man meist das Gefühl, doch gewisse Unabhängigkeiten zu haben. Geht euer größtes Unglück in die gleiche Richtung oder ist es etwas ganz Anderes?

4 Kommentare zu „Proust-Fragebogen: Was ist für Sie das größte Unglück?

    1. Wie ich meine: Den Lebensumständen angepasst. Wer in Familienkontexte eingebunden ist, hat durch seine Entscheidung partiell Unabhängigkeit aufgegeben, um etwas anderes zu bekommen und muss sich andere Formen suchen … Und wenn sich erneut was ändert, eben solch eine Möglichkeit ergreifen, Unabhängigkeit zu demonstrieren, ein eigenes Zimmer oder ein neues Hobby bspw.

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  1. Ich würde deine Einschränkungen ebenfalls als kleine Unglücke ansehen (einen Studienplatz brauche ich zum Glück nicht mehr, die drei Abschlüsse habe ich schon lange in der Tasche). Aber Untreue in einer Beziehung, die dann — ob gewollt oder unbeabsichtigt — nach und nach jegliche Vertrauensbasis zerstört, wäre für mich eines der größten Unglücke überhaupt. Das würde mich völlig zerstören.

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  2. Ja, kleine Unglücke vielleicht, aber da ich jobtechnisch noch auf dem Weg bin, fällt das für mich in die Kategorie Hindernis. Wobei ich mich manchmal in der Tat verdächtige, da nur Problemverdrängung zu betreiben. Was die Treue angeht, kann ich das gut nachvollziehen. Sich auf jemand anderen einzulassen bedeutet, aus dem ich und du ein wir zu machen, das Ich nimmt den Partner auf und umgekehrt. Untreue ist Betrug am wir und damit Beschädigung des Ich … Das schöne ist, dass der Fall der Untreue damit den Wert von Beziehungen illustriert. Hach, ich werde romantisch, also höre ich besser auf. Der romantische Zeilenende ist nämlich noch unerträglicher als der zynisch-misanthrope, der schon hinter der Ecke lauert, um dem romantischen mit der Keule eins drüber zu geben. Danke für deine Gedanken. 🙂

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