Ein Satz vorweg, falls sich jemand wundert: Der Artikel war schon einmal versehentlich online, als er noch nicht fertig war. Jetzt habe ich ihn überarbeitet und lasse ihn das Licht der Welt erneut erblicken.
In der vorletztwöchigen ZEIT war ein großer Artikel zu finden, in dem über neue Behandlungsmöglichkeiten von Morbus Alzheimer berichtet wurde. Alzheimer ist die am weitesten verbreitete Form der Demenz, dem Schrecken der Menschheit. In der letztwöchigen ZEIT fand sich eine kurze Notiz, dass die veröffentlichten Studienergebnisse tatsächlich erfolgsversprechend seien. Weil ich dieses Wochenende Besuch habe, gibt es zur Verdauung leider noch nicht einmal ein Brotbild.
Ich möchte euch keinen langen Vortrag darüber halten, wo die Unterschiede zwischen Alzheimer und anderen Formen der Demenz liegen. Auch bin ich nicht ganz so euphorisch gestimmt wie die ZEIT-Autoren. Die neuen Forschungsergebnisse sind ein Hoffnungsschimmer, sie sind auch ein Durchbruch, aber für eine Sensation ist es noch zu früh. Wer sich genauer informieren möchte, dem empfehle ich diesen Artikel von der Homepage des Deutschen Ärzteblattes. Nur so viel vielleicht: Wir verstehen das Krankheitsbild „Demenz“ immer noch viel zu wenig, um sagen zu können, ob die getesteten Therapien tatsächlich die Ursache der Krankheit bekämpfen oder nur auf eines der Symptome losgehen. Selbst wenn es nur die Symptome sind, ist das ein Grund zur Freude, aber Champagner gibt es erst bei der Aussicht, die Ursachen zu bekämpfen.
Kapitalismus und Therapie
Mich interessiert eher eine andere Implikation der neuen Forschungsergebnisse: Die Gerechtigkeitsfrage. Denn kaum wurden die ersten Andeutungen zu neuen Forschungsergebnissen publik, kam die Frage nach dem lieben Geld auf. Neue Medikamente werden von Pharmafirmen für teures Geld auf den Markt geworfen, denn wirklich profitabel sind sie nur, solange es Patentschutz gibt und keine Generika auf den Markt kommen. Es gibt zwar die schöne Vorstellung, dass hohe Nachfrage zu Massenproduktion führt, Massenproduktion die Produktionskosten für das einzelne Stück senkt und ein kleiner Gewinn pro Stück in der Masse dennoch ein satter Profit ist, aber mal ehrlich: Ich halte es für realistisch, dass die allermeisten Betroffenen das Medikament haben wollen, sodass die Pharmakonzerne so lange an der Preisschraube drehen werden, bis die kritische Masse an Abnehmern ihnen erhalten bleibt, es ihnen aber verdammt weh tun wird. Günstig werden die ersten effektiven Alzheimer-Medikamente auf dem Markt gewiss nicht werden.
In Deutschland bedeutet das eine massive Belastung der Krankenkassen, die ohnehin schon sehr unglücklich sind, wenn sie sich um ihre alten Kunden kümmern müssen. Gleichzeitig führt es zu einer Entlastung der Pflegekassen. Man könnte nun die Frage stellen, ob bei entsprechenden Ausgleichszahlung zwischen den beiden Kassensystem ein Nullsummenspiel wird. Daran glaube ich aber erstens nicht und zweitens bewegen wir uns damit auf einer Ebene der Debatte, die ich eigentlich verlassen möchte.
Probleme lösen oder Gesund sein
Wir behandeln, folgten wir diesem Pfad, Gesundheit als Ware, ärztliche Versorgung als Dienstleistung. Das hängt mit unserem Blick auf Krankheit zusammen. Krankheit ist ein Problem, das es zu lösen gilt. Dabei ist es übrigens egal, ob wir auf Pillen, Globuli oder Bachblüten setzen. Der Weg ist egal, hauptsache wir funktionieren wieder normal. Fehlfunktion des Körpers, verlorene Balance, das sind nur Synonyme für verlorene Normalität. Wir sind auf die Behandlung fixiert, statt ein tieferes Verständnis für Krankheit zu entwickeln und sie als Krisenphänomen zu begreifen, das es nicht bloß zu behandeln, sondern aufzulösen gilt. Problembehandlung ist ein technischer Vorgang, Krisenbewältigung ein psychologischer. Demnach kann man Krisen durchaus, liebe Esoteriker, auch mit der Unterstützung von Pillen und chemischer Keule bewältigen, aber wenn ihr euch denkt: „Oh, mich plagt ein Zipperlein, bin ich doch mal ein wenig achtsamer“ ist auch keine Lösung, sondern nur Problembehandlung.
Das ließe sich sicherlich noch vertiefen und ein alterntives Verständnis von Behndlung zu erkunden, aber der Punkt ist hier, Gesundheit als Ware zu begreifen. Waren haben die unangenehme Eigenschaft, dass sie stets ein begrenztes Gut darstellen und nicht immer und überall verfügbar sind. Begriffen wir Gesundheit stattdessen als RECHT, müssten wir die Frage nicht stellen, wie man Behandlungen finanzieren sollte, sondern wir müssten uns die Frage stellen: Was bedeutet Gesundheit für den Menschen, wie weit geht sein Recht auf Durchsetzung seiner individuellen Vorstellungen und anschließend inwieweit ist er verpflichtet, auf Andere Rücksicht zu nehmen?
Zurück zum Geld – Indien
Wenn man die Frage so stellt, ergeben sich einige Anschlussfragen. Kommt man aber auf diesem Weg zum leidigen Geld zurück, zeigt sich, dass die Gewinnmaximierungsbedürfnisse der Pharmakonzerne nicht diejenigen sein dürfen, die die Preispolitik bestimmen. Wie es auch anders gehen könnte, zeigt der Fall Indien, das die Pharmafirmen mit seinem laxen Patentschutz schon seit Jahren in die Verzweiflung treibt und dadurch ermöglicht, dass Medikamente auf dem indischen Markt durch zahlreiche Generika wesentlich günstiger zu haben sind. Die Pharmakonzerne maulen, aber sie spielen das Spiel dennoch mit. Sie haben immerhin weiter ein Interesse daran, neue Produkte zu entwickeln und auf den Markt zu bringen, um wenigstens ein bisschen Profit zu machen. Aber: Der indische Staat begreift sich als Gegenpol undgleichberechtigter Mitapieler in diesem Spiel. Sein Antrieb gründet in dem Denken, dass alle Bürger – ideal gesprochen – Zugang zu umfngreicher medizinischer Veraorgung hben müssten. Wir reden zwar noch über Medikamente und Problemlösung, aber auf einer anderen Ebene.
Alzheimer und das Lebensende
So viel allgemein. Auf den Fall Alzheimer angewandt: Unter rationalen Gesichtspunkten kann niemand ein Interesse daran haben, sich von der Krankheit zersetzen zu lassen. Es gibt gute Gründe, sich gegen die Behandlung einer Krankheit zu entscheiden, eine Therapie gegen den Krebs abzulehnen, weil die Erfolgsaussichten gering sind oder die Belastungen der Therapie und der erwartbare geringe Erfolg in keinem Verhältnis zum üblichen Verlauf der Krankheit inkl. Tod stehen. Im Falle von Alzheimer liegt die Sache anders, weil der Betroffene nicht im handelsüblichen Sinne stirbt, sondern seine Person als Träger der hier überlegenden Ratio sich in einem qualvollen Prozess von der Welt verabschiedet und einer anderen Person Platz machen muss. Alzheimer ist die quälende Perspektive, sich beim Sterben zuzusehen, ohne nach medizinischen Kriterien zu sterben. Die Einheit von Leib und Seele zerbricht, die Seele zerfasert, stirbt.
Bevor jetzt jemand protestiert: Ich will keinen Leib-Seele-Dualismus aufmachen. Ich halte den Menschen für eine leib-seelische-Einheit, die man in keine von zwei Richtungen auflösen kann. Der Mensch ist nicht bloß sein Körper, er ist nicht nur sein Geist. Er ist nicht einmal Leib. Das Gerede in der Philosophie vom Leib als eine Betrachtungsweise des Körpers führt leider viel zu oft dazu zu vergessen, dass der Leib an den Körper gebunden ist. Darin liegt auch das Problem der Gedankenexperimente zu Hirntransplantationen und solchem Schnickschnack: Solche Szenarien sind unvorstellbar, weil Personen immer zugleich ihr Leib und ihre Seele sind.
Mein Reden: Die Seele schwindet, ist damit eigentlich eine inadäquate Beschreibung des Vorgangs. Ich möchte es als Bild verstanden wissen, der eigentliche Vorgang ist der, dass der Mensch stirbt, weil seine Beziehungen zur Umwelt sich radikal ändern, ähnlich radikal wie beim handelsüblichen Tod. Mit Blick auf die Person, die ein Alzheimer-Patient mal war, sind das irgendwann auch nur noch Leichname, die umherwandern können. Auch das ist seltsam ungenügend, aber es liegt eben an der Unvorstellbarkeit der Auflösung unserer leibseelischen Einheit.
Verzichtet man auf eine Behandlung von Alzheimer, negieren wir uns selbst, entscheiden uns zu sterben – aber mit einer langfristigen Perspektive, in der wir „immer weniger“ werden. Wir sprechen nicht über sechs Monate verhältnismäßig unbeschwerten Lebens ohne statt zwölf Monate beschwerlichen Lebens mit Therapie, sondern über einen Zeitraum von Jahren. Ich sehe keinen Grund, der rational für eine Therapieverweigerung spricht. Daraus folgt nicht, dass jedermann zur Therapie gezwungen ist, daraus folgt aber immerhin, dass jeder Betroffene Anspruch auf eine solche Therapie haben sollte, weil Alzheimer nicht nur existenz-bedrohend sondern existenz-vernichtend ist.
Perspektivenwechsel: Nochmals Geld
Die beinahe panisch aufbrandende Frage nach dem lieben Geld und den Behandlungskosten betreibt das Anliegen der Pharmakonzerne Geld zu verdienen. Die Angst, unser Sozialsystem könnte gesprengt werden, ist nur berechtigt, weil wir es zulassen, das Profitstreben der Pharmakonzerne und deren Bedürfnis, jede Lebenslage des Menschen mit einer Therapie zu versorgen (Problemlösung) als Ausgangslage akzeptieren, statt die Frage zu stellen, welche Therapie wirklich sinnvoll ist, weil sie Gesundheit befördert. Man könnte dann zum Schluss kommen, dass manche massive und teure Therapie am Lebensende unter Gesundheitsaspekten sehr viel weniger sinnvoll ist und eine profitable Einnahmequelle für Pharmaindustrie (aber auch Krankenhäuser und Ärzte) versiegen lassen, indem wir auf ein Umdenken und andere Therapiekonzepte hinarbeiteten.
Damit zeigt sich zuletzt, dass die Furcht, meine Forderung nach einem Recht auf Gesundheit würde doch irgendwie zu einer Kostenexplosion führen, zwar verständlich ist, es sich dabei aber nicht um ein notwendiges Szenario handelt. Die Forderung nach einem Umdenken fordert ein neues Verhältnis zu uns selbst ein – gewisse Praktiken könnten verschwinden, wenn neue hinzukommen. Aber das sollte nicht unser Leitmotiv sein. Wir sollten uns zunächst über die Fortschritte der Forschung freuen. Aber statt sogleich vor dem Kapitalismus zu kuschen, sollten wir lieber einmal die Systemfrage stellen.
Und wer sich Sorgen macht, dass das das Ende aller pharmkologischer Forschung sei, denke noch einmal an das Beispiel Indien. Es geht nicht darum, in altlinker Manier den Kapitalismus abzuschaffen, sondern im einen Widersacher zur Seite zu stellen.