Lexikon: Demenzkranke

Ich habe zum Abschied aus dem Seniorenzentrum über einige Dinge gründlich nachgedacht. Dabei ist mir zum ersten Mal bewusst geworden, dass sich eines meiner Probleme mit dieser Arbeitsstätte schon in der dort herrschenden Wortwahl ausdrückt. Zeit für ein wenig Besinnung. Das wird schwere Kost, deshalb habe ich mich entschieden, eine Reihe draus zu machen und euch mit Altersheim-Sprech bekannt zu machen. Und wir starten damit am heutigen Sonntag, weil ich gestern nicht zum Brotbacken gekommen bin und euch deshalb leider ohnehin nicht mit Bildchen erfreuen kann.

Jobprofil

Therapeutischer Dienst … Tja … Für Außenstehende bin ich Physiotherapeut oder Psychotherapeut, wenn sie mein Namensschild lesen. Beides ist so halb richtig und doch grundfalsch, weil ich für beides die nötigen Ausbildungen nicht durchlaufen habe. Ich bin studierter Historiker und Ethiker mit einem Staatsexamen für gymnasiales Lehramt und bar jeglicher Lust, ins Referendariat zu gehen.Also habe ich mich übergangsweise in einem Job probiert, den ich eine Mischung aus Frühstücksdirektor und Animateur nennen möchte.

Kurz gesagt geht es darum, die Bewohner*innen zu beschäftigen und ihnen dabei zu helfen, einerseits ihren Alltag zu strukturieren und andererseits ihre Fähigkeiten zu erhalten und wo möglich zu fördern. Dafür ist eine breite Bildung und eine gewisse pädagogische Schulung hilfreich, man kann aber prinzipiell alles gelernt haben und mit den Bewohner*innen machen. Meine Kollegin ist studierte Germanistin und arbeitet viel mit Gedichten, Theaterstücken, etc. Ich habe viel mit alten und neuen Spielen gearbeitet, aber vor Allem die Haushaltsthemen besetzt. Nur weil alle Bewohner*innen alt sind, heißt das nicht, dass es keine unterschiedlichen Interessen gibt.

Haushaltsthemen sind eine dankbare Aufgabe. Wir haben es in Seniorenzentren zum großen Teil mit alten Frauen zu tun und kochen, backen, bügeln, spülen war für sie Lebensinhalt. Ihnen zu zeigen, dass sie immer noch Kuchen backen können und damit etwas Gutes für sich und für andere tun ist wichtig für ihre Psychohygiene. Sie fühlen sich wertgeschätzt, wenn der Hefeteig aufgeht und am Ende alle gemeinsam den Kuchen vertilgen. Und auch einige Herren der Schöpfung haben Freude daran. Entweder tun sie etwas, das sie auch früher schon getan haben oder sie kommen sogar gezielt, um etwas Neues zu lernen. Bewundernswert, wenn die 90 an die Tür klopft.

Schwierigkeiten

Nun sind nicht alle Bewohner*innen so unkompliziert wie Frau W. aus dem Zoo. Da ist Frau B., die den ganzen Tag jammert, dass ihr Haus verkauft wurde und sie nun nichts mehr habe. Da ist Frau S., die so dement ist, dass es weh tut und man Mitleid haben müsste, wenn sie nicht ein solch herrisches Scheusal wäre, dass ihr Anblick in mir Agressionen geweckt hätte. Jede Begegnung mit solch einem Menschen ist eine Herausforderung, wenn man sich zugewandt und hilfsbereit geben soll. Manchmal will man die Betreffenden lieber anschreien als sich mit ihnen zu beschäftigen.

Überhaupt, die Demenz im fortgeschrittenen Stadium. „Gewöhnliche“ Bewohner*innen zu beschäftigen, ist einfach und macht Freude. Demente Bewohner*innen zu beschäftigen ist manchmal einfach und macht meistens Freude. Aber es kostet Kraft. Zu viel Kraft. 20h in der Woche habe ich gearbeitet, 2,5 volle Tage. Und jeden Freitag Abend saß ich auf dem Sofa und fühlte mich als ob ich 80h gearbeitet hätte. Jedes Mal, wenn ich Feierabend gemacht habe, spürte ich Scham, weil ich mich darüber freute. Ich bin gern gegangen. Es war nicht die Freude, in den Feierabend zu gehen, auch nicht die Freude, ein gutes Tagewerk vollbracht zu haben, sondern die Freude, weg von Leuten wie Frau S. zu sein. Und gerade diese Leute brauchen besonders viel Zuwendung, um auch ihnen einen schönen letzten Lebensabschnitt zu ermöglichen. Kurz und knapp: Ich konnte morgens kaum mehr in den Spiegel gucken, weil meine Einstellung zu meinem Beruf mit meinen Gefühlen kollidierte und mein Ethos immer häufiger den Kürzeren zog. Ich habe den ein oder anderen Fall einfach den Kolleginnen überlassen. In dem Beruf 40 Jahre Vollzeit zu gehen ließ in meinem Kopf nur ein denkbares Zukunftsszenario entstehen: Wenn du das durchziehst, kannst du dich in spätestens zwei weiteren Jahren nach einem kuscheligen Zimmer mit gepolsterten Wänden umsehen.

Sicher, man braucht Einfühlungsvermögen, um mit Demenzkranken umzugehen und man könnte sagen, den ersten Schritt habe ich getan. Ich muss nur lernen, ihre Situation als glücklich zu verstehen. Doch das ist es nicht, denn genau das ist mir bewusst. Ich konnte mit den Dementen gut umgehen, mich auf ihre Welt einlassen und ich sah, wie glücklich sie waren. Aber ich konnte keine Befriedigung daraus ziehen. Jede Begegnung mit einem von ihnen führte zu der Beschäftigung mit der Frage: Was, wenn du mal so wirst? Und Demenz ist das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann. Führt meine persönliche Hitliste katastrophaler Zukunftsszenarien deutlich vor einem neuen Weltkrieg an. Angst vor dem Tod, oder besser Kränkungsgefühle beim Gedanken an den Tod, habe ich große – und Demenz ist für mich als Steigerung Tod vor der körperlichen Auflösung.

„demenzkrank“ und „dementiell verändert“

Ich hoffe, ich habe verständlich dargelegt, wieso ich nach einem Jahr das Handtuch geworfen habe, obwohl jeder Karriereratgeber davon abrät. Aber mein Plan war ohnehin nie die Arbeit in der Altenpflege sondern ich habe es auf den Kulturbetrieb abgesehen. Von daher fehlte mir das Bedürfnis, durchzuhalten in einem Beruf, der mich stets unglücklich gemacht hat und auf eine Besserung hinzuarbeiten. Vielleicht hätte ich es mit Supervision und Fortbildung in den Griff kriegen können, aber das finde ich nach wie vor nicht erstrebenswert.

Ich habe behauptet, mein Problem mit dem Job lasse sich in Begriffen fassen. Dazu gehört der Begriff „Bewohner*in“, dem ich mich eigentlich in diesem Beitrag widmen wollte. Dann fing ich an, die Vorrede zu schreiben und mir fiel ein, „Demenzkranker“ ist ein besserer Begriff für den Einstieg. Denn der Begriff aus der Alltagssprache geht mir immer noch leicht über die Finger, im Altersheim-Sprech taucht er nicht auf. Da sprechen wir nicht von einer Krankheit. Demenz keine Krankheit, sie ist je nach theoretischem Standpunkt eine Behinderung oder es ist eine bloße dementielle Veränderung.

Die normativen Implikationen sollten klar sein: Krankheit, egal ob chronisch oder akut, verspricht Heilung. Sie ist ein Makel, den es zu bekämpfen gilt. Selbst bei unheilbaren Krankheiten, mit denen man zu leben lernen muss, besteht durch die Behandlung als Krankheit die Hoffnung, dass sie irgendwann geheilt werden kann. Der Betroffene wird dadurch zwar als Kranker stigmatisiert, aber dennoch gibt es Hoffnung. Trittst du ins Seniorenzentrum ein, lass all deine Hoffnung fahren, deine Demenz wird nicht länger als Krankheit akzeptiert.

Doch das ist genau meine Perspektive. Auch nach einem Jahr Arbeit mit Demenzkranken sind sie für mich Kranke – und mit jedem Tag habe ich mehr gehofft, dass es, wenn ich einmal alt werde, eine Möglichkeit gibt, das Verschwinden meiner Persönlichkeit zu verhindern. Und wenn es eine transhumanistische Horrorvision sein sollte: Lieber lasse ich mein Bewusstsein auf einen Chip kopieren als nicht mehr ich zu sein. Ich habe Verständnis für die anderen Sichtweisen, ich kann sie nachvollziehen und ich halte auch das Leben als Programm auf einer Festplatte für nicht erstrebenswert, aber vor die Alternative gestellt, nicht mehr zu sein oder digital zu sein bin ich lieber digital. Auch wenn ich ohne meinen Körper wohl auch nicht mehr ich sein werde.

Behinderung? Ja klar. Die Bezeichnung als Behinderung hat ihre Vorteile. Sie nimmt das Stigma vom Demenzkranken, ein Kranker zu sein. Nicht seine Erkrankung steht im Mittelpunkt sondern seine sonstigen Fähigkeiten. Doch wer ist das, der da sonstige Fähigkeiten hat? Geht diese Person mit fortschreitender Behinderung nicht flöten? Denn im Unterschied zu vielen Behinderungen ist Demenz fortschreitend, die Situation verschärft sich. Kontinuierlich. Das gilt auch für manche Behinderung oder für viele Behinderungen. Aber das Fortschreiten lässt sich in vielen Fällen managen, man kann sich anpassen. Aber wer passt sich in der Demenz an? Ändert sich nicht das, was sich eigentlich anpassen sollte? Es bleibt ein fortschreitender Verfall, da hilft mir sprachliche Kosmetik nicht.

Dementielle Veränderung ist die Steigerung dieses Gedankens und die Lieblingsfigur meiner Kolleg*innen. Statt darauf abzuheben, dass dort jemand anders ist und von einem normativen Ideal negativ abweicht (das tut auch der Behinderte, indem man ihn so nennt), sondern die Person wird in ihrer ganzen wundervollen Individualität in den Mittelpunkt gestellt. Sie ist genau so normal wie wir alle, sie ist anders, aber jeder von uns ist anders. Nur, erneut: Wer bitte ist da noch anders? Gibt es mit fortschreitender Demenz überhaupt noch Kontinuitäten, von denen wir sprechen können? Kontinuitäten jenseits von „das ist derselbe Materiehaufen wie gestern“ im „Endstadium“? Ist Demenz nicht gerade das schleichende Ende und der immer neue Bruch all dieser Kontinuitäten? Wer ist die dementiell veränderte Person denn noch? Man kann die Vorgeschichte des dementiell Veränderten nicht einfach ausblenden wo doch eine wesentliche Leistung unseres Lebens es ist, all unsere Erfahrungen, Einstellungen, Rollen die wir spielen, zu einer konsistenten Persönlichkeit zu integrieren. Der Demente ist, wenn überhaupt noch, eine neue Person. Aber wir behaupten das Gegenteil, wenn wir von dementieller Veränderung sprechen und suchen verzweifelt Kontinuitäten, finden aber nur Banalitäten – und das aus purem Selbstschutz, aus Angst vor dem, was ein Jahr lang mein Horror war: Demenz als Krankheit zu begreifen, die uns womöglich auch befallen kann.

Mehr Ehrlichkeit in der Sprache hätte mich auch nicht im Beruf gehalten, aber vielleicht hätte es vieles leichter gemacht. Stattdessen habe ich mich ein Jahr lang mit Kuchen und Brot auch selbst therapiert … Und bin damit noch nicht fertig. Mein heutiges Therapieprodukt ist ein Aprikosen-Puddingkuchen fürs Ehemaligentreffen meines ehemaligen Vereins. Simpel, aber lecker, mit einem Mürbteig, einer Puddingschicht, angereichert mit Eischnee und Creme fraiche, Aprikosen und Tortenguss. Streusel habe ich mir verkniffen, weil jemand anderes schon Kirschstreusel macht und es doch ein wenig Abwechslung geben sollte.

Das mag gemein klingen gegenüber Demenzkranken, Kranken allgemein und auch Behinderten. Es ist ihnen und ihrer Lebenssituation gegenüber ungerecht und das weiß ich. Zumindest weiß ich es rational. Aber meine Gefühle sprechen eine andere Sprache und lassen sich nicht zu einer kongruenten Linie integrieren. „Dementielle Veränderung“ klingt für mich nach Hohn statt als Selbstschutzfunktion. Ich will es nicht akzeptieren, ich will die Hoffnung haben, die der Begriff „Krankheit“ impliziert. Und deshalb gehe ich jetzt Brötchen holen.

8 Kommentare zu „Lexikon: Demenzkranke

  1. Ich bewundere jeden, der im Krankenhaus oder Pflegeheim arbeitet. Ich weiß, das ich bestimmt selber mal im Pflegeheim leben werde, aber das ist etwas was ich bisher erfolgreich verdränge. Warum? Weil das etwas ist, was mir Angst macht.

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    1. Das kann ich gut verstehen, dabei ist das Leben nüchtern betrachtet gar nicht mal so übel. Man müsste die alten Leute nur früh genug darauf vorbereiten und langsam an diese neue Lebensphase gewöhnen. Eigentlich bräuchte es eine Strategie der Altersversorgung, mit flächendeckender Versorgung betreuter Wohneinrichtungen, damit der Autonomieverlust behutsam moderiert werden kann. Aber der Gedanke dieser Entmündigung ist grässlich. Und die Leute, die direkt aus dem Krankenhaus ohne Umweg über den bisherigen Lebensmittelpunkt eigene Wohnung zu uns gekommen sind, waren neben den Demenzkranken auch die schlimmsten Fälle.

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  2. Ein schöner Artikel. Wenn man sich vor Augen hält, dass die Mitarbeiter in Pflegediensten zu den am fairsten bezahlten Fachkräften gehören, kann man sich wenigstens darauf verlassen, dass sie stets mit vollem Einsatz am Wohl des Bewohners interessiert sind. (Sarkasmus aus)

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    1. Darauf verlassen kann man sich durchaus, nur leider nicht aus monetären Zwecken, sondern weil die Pflegekräfte wissen, dass sie schnell ersetzt werden, wenn sich die Beschwerden über sie häufen. Und weil die Altenpflege in der Tat nur etwas für Übefzeugungstäter ist. Ich habe im vergangenen Jahr einige Praktikanten gesehen … Wer da nicht wirklich aus sich heraus motiviert ist, überlegt sich das mit dem Berufswunsch ganz schnell wieder. Den Care-Aspekt der Altenbetreuung kann man nicht durch monetäre Anreize stärken, was sich die Arbeitgeber allzu oft zunutze machen. Auch wenn bei uns recht gut bezahlt wird. Aber was ist schon eine anständige Vergütung für einen Tag mit einem Todesfall nach erfolgloser Reanimation, einem Suizidversuch, einer kurzfristigen Krankmeldung und bei fast 40 Grad Außentemperatur, trotz derer sich einer der Bewohner weiterhin standhaft weigert zu duschen?

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