Das Zeilenendesche Gesetz scheint zu stimmen. Je weniger Post-its, desto besser das Buch. In diesem hier stecken auf über 500 Seiten gerade einmal neun, während auf den ersten 50 Seiten Taberna Libraria Bd. 2 schon drei Stück Verwendung fanden – und wenig schmeichelhafte Worte enthalten. Weil es so wenig spektakulär aussieht, gibt es diesmal auch kein Photo.
Dieses Buch wollte ich eigentlich gar nicht kaufen. Es geht um Zombies im Weltall, wie die Autorin bei ihrem Panel auf der Fedcon angekündigt hatte. Ich war hingegangen, weil ich neugierig war und Claudia Kern vor Allem als die Fedcon-Trailertante kannte. Die Trailershows waren immer sehr unterhaltsam, also habe ich vorgewitzt. Nach ihrer Lesung war klar, das Buch muss ich doch ausprobieren, auch wenn ich Zombies eigentlich nicht mag. Und nicht nur, weil sie im Gespräch „meine“ Hirntoten mit „ihren“ Zombies verglich, sondern weil mich die Lesung doch gepackt hatte. Ich wurde belohnt. Aber auch an Kerns Vergleich ist was dran, dazu vielleicht nebenan mal was. Hier will ich erstmal meine Begeisterung mit euch teilen.
Inhalt laut Buchcover
Einige Jahrzehnte in der Zukunft: Dank außerirdischer Technologie hat die Menschheit den Sprung zu den Sternen geschafft und das Sonnensystem kolonisiert. Doch die Reise endet in einer Katastrophe. Auf der Erde bricht ein Virus aus, der Menschen in mordgierige Zombies verwandelt … Daraufhin riegeln die Außerirdischen das Sonnensystem ab und überlassen die Menschen dort ihrem Schicksal. Die, die entkommen konnten, werden zu Nomaden in einem ihnen fremden Universum, verachtet und gedemütigt von den Außerirdischen, ohne Ziel, ohne Zukunft. Zu ihnen gehört auch die Crew des kleinen Raumschiffes Mishima. Sie ahnt nicht, dass sie sich als die vielleicht letzte Hoffnung der Menschheit erweisen wird. Die Crew des Raumschiffes Mishima verdient sich ihren Lebensunterhalt mit dem Ausschlachten alter Schiffswracks. Als sie auf ein großes, scheinbar verlassenes Postschiff stoßen, glauben sie, endlich den Jackpot geknackt zu haben. Mit der Fracht, die sich in der T. S. Eliot befindet, könnten sie auf Jahre hinaus im Wohlstand leben, doch zwischen ihnen und diesem Schatz liegen lange, dunkle Gänge voll unheimlicher Gegner … und die Erkenntnis, dass die Eliot ein Geheimnis birgt!
Episodisches Erzählen
Homo Sapiens 404 ist eine eBook-Reihe, „Die Verlorenen“ eigentlich kein Roman, sondern ein Sammelband der ersten sechs Episoden, mit denen uns der Cross Cult Verlag erfreut. Das merkt man der Geschichte deutlich an, denn sie ist episodenhaft erzählt und im Mittelpunkt stehen vor Allem die Figuren, ihre Beziehungen zueinander und die Abenteuer, die sie miteinander erleben. Natürlich gibt es auch eine große Geschichte und das Schöne ist, die große Geschichte, obwohl immer im Hintergrund präsent, verschwindet nie.
Ein weiteres Problem, das sich durch das episodische Erzählen oftmals ergibt, zumindest im phantastischen Genre, ist der mangelnde Bezug zur Welt, in der die Geschichte spielt. Das episodische Erzählen funktioniert im Fernsehen vorzüglich, weil viele Dinge einfach gezeigt werden können, im Buch geht das nicht so leicht. Aber durch die Benutzung des Internets und technischer Geräte erfahren wir nebenbei etwas über die Technologie der Welt von Homo Sapiens 404 , durch den Kontakt zu verschiedenen Menschengruppen und Rückblenden erfahren wir etwas über die Katastrophe auf der Erde und durch den Kontakt unserer Helden mit den Jockeys bekommt Leser*in einiges über diese Spezies vermittelt – auch wenn sowohl wir als auch die Menschen in der Geschichte hauptsächlich Vermutungen haben. Sie sind ein Mysterium der Geschichte.
Die Schwierigkeiten, die sich mit episodischem Erzählen verbinden, umgeht die Autorin. Das Episodenhafte ist mir erst nach knapp der Hälfte voll bewusst geworden, als das Resultat einer nicht beschriebenen Szene virulent wird. Dafür weiß Claudia Kern die Stärke ihres Vorgehens konsequent auszuspielen. Es geht rasant durchs All, auf den 520 Seiten kommt nicht nur nie Langeweile auf, ich hatte gleich drei „Holy Shit“-Momente. Bei so einer Vorlage darf man gespannt sein, wie sich das Verhältnis Mensch-Jockey und unserer Helden zueinander weiterentwickelt; und was zur Herkunft der Zombies noch so ans Tageslicht kommt, denn das ist noch völlig unklar.
Die Figuren
Nach solch ausführlichem Lob bin ich fast schon ermüdet, dabei gäbe es noch so viel zu den Charakteren zu sagen. Es gibt die üblichen Verdächtigen: Das Wunderkind mit den autistischen Zügen, den manierenlosen und tumben Schläger, die Mutter der Kompanie, den zugleich verschlagenen und warmherzigen Söldner, den geheimnisvollen Fremden, die Undurchschaubare und allerlei Beiwerk. Die Nebencharaktere bedienen ebenso gewisse Stereotype, aber das Großartige ist: Jeder Charakter vermittelt das Gefühl, eine Persönlichkeit zu sein.
Bei der Heldentruppe wird dies am Deutlichsten: Jeder einzelne von ihnen wird uns von Seite zu Seite vertrauter, hat eine eigene Geschichte und gewinnt Stetig an Komplexität. Insbesondere der Schläger verdient die Bezeichnung tumb eigentlich gar nicht, denn er hat eine besondere Geschichte und ist ein großartiger Kerl. Er entspricht zugleich dem Klischee und bricht immer wieder damit, wenn er das stereotyp erwartende Lesewesen mit etwas überrascht, was man nicht erwartet hätte, aber voll ins Konzept passt. Man merkt jeder einzelnen Figur, selbst den üblen Kerlen, an, dass die Autorin ihre Figuren liebt und das ist die beste Voraussetzung für eine Geschichte, die wesentlich durch die Interaktion der Charaktere miteinander vorangeht.
Der Nerdfaktor
Das Sahnehäubchen an der Geschichte sind die popkulturellen Anspielungen, allein schon im Titel. Da wird Scrubs aus dem Netz gezogen, da wird Youtube benutzt, um eine Revolution auszulösen. Es gibt VR und IRC, Chatnicknames in Gedenken an Tash Yar, transhumanistische Visionen in die Realität der Zukunft implementiert (mit der VR-Brille gekoppelte Chips in den Fingerspitzen), Star Wars und Lord of the Flies, einen geheimnisvollen Kerl namens Pendergast (der nur kurz in einer Rückblende auftaucht, weshalb ich mir nicht sicher bin, ob das Absicht ist, aber ich tu mal so ), einen Möchtegern-Cowboy im Weltall und vieles mehr, das ich hier gar nicht erwähnen kann, weil ich sonst gegen das Zeilenendesche Gesetz hätte verstoßen müssen.
Fazit
Rasante Action, großartige Charaktere, eine coole, wenn auch deprimierende zukünftige Welt, Spannung, Entwicklung, eine kleine Prise Grusel (aber nicht zu viel, was bei meiner Empfindlichkeit gut ist), viele unbeantwortete Fragen und das alles garniert mit einem dicken Guss aus Netzkultur. Wer keine grundsätzliche Science-Fiction-Allergie hat oder nur Stanislaw Lem an sein Auge lässt, wer sich zudem ein bisschen mit Netzkultur auskennt, sollte unbedingt zugreifen, am Wochenende das Smartphone und die Hausschelle abschalten und dann „Homo Sapiens 404: Die Verlorenen“ von Claudia Kern lesen. Am Montag kann man dann einen Abstecher zum Buchhändlerwesen des Vertrauens machen und den nächsten Band bestellen.
3 Kommentare zu „Rezension: Claudia Kern – Homo Sapiens 404. Die Verlorenen“