Thomas Glavinic – Das Leben der Wünsche

Wer von uns hat sich nicht schon einmal vorgestellt, die Wunderlampe zu finden, daran zu reiben und vom Geist nach seinen drei Wünschen gefragt zu werden? Ich für meinen Teil habe mir das schon manches Mal gewünscht. Und jeder, der unbedacht, jung, ungestüm ist, wird wohl spätestens als Drittes den einen Wunsch haben: Dass sich alle Wünsche erfüllen. Jonas, der Protagonist von „Das Leben der Wünsche“ tut dies gleich zu Beginn und es ist absehbar, dass es in einer Katastrophe endet. Wäre er vorsichtiger gewesen, hätte er eine andere Antwort gegeben, eine die mir persönlich näher gelegen hätte. Aber wer weiß, ob der Wunsch, einfach unendlich viele Wünsche frei zu haben, am Ende besser gewesen wäre oder nicht eine andere Katastrophe ausgelöst hätte.

Jonas ist ein Durchschnittstyp. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder, das eine an Kurzwüchsigkeit leidend. Er liebt seine Frau, doch die Liebe ist eine wandlungsfähige Sache, sodass er nebenbei eine Affaire mit einer ebenfalls verheirateten Frau unterhält. Sein Job erfüllt ihn nicht, seine Kolleginnen und Kollegen sind alle merkwürdig, um es vorsichtig zu formulieren. Und Jonas ist ein typisch modernes Subjekt: Er spricht ständig mit Menschen, er kontrolliert zwanghaft sein Telefon, ob er neue Nachrichten bekommen hat, dennoch ist er von der Wirklichkeit merkwürdig getrennt. Seine Leidenschaft für Photographie scheint mir ein Code dafür zu sein: Er hat das Gefühl, die Wirklichkeit nur greifen zu können, wenn er sie mit dem Auslöser für immer auf Zelluloid bannt. Wirklich zu leben scheint er nicht.

Seine Einsamkeit spiegelt sich in Glavinics Sprache. Gespräche verzichten auf Anführungszeichen, sind keine wirklichen Dialoge. Der Tonfall des Erzählers ist klar, er ist sachlich. Auch wenn er ständig Jonas folgt, seine Taten beschreibt und selbst seine Gedanken beschreibt (es gibt beeindruckende Streams of Conciousness, in der das Erzähltempo Jonas‘ Stimmung einfängt) – damit auch seine Gefühle preisgibt: Jonas bleibt ein vom Leser getrenntes Individuum. Bis zuletzt war ich mir nicht sicher, ob es ihn wirklich gibt.

Zweifel an seiner eigenen Existenz treiben ihn gelegentlich auch um, doch in erster Linie hat Jonas damit zu kämpfen, dass ihm merkwürdige Dinge geschehen. Sein Kind beginnt zu wachsen, seine Frau stirbt völlig überraschend, er wird in einen dunklen Wald gelockt, er entgeht nur knapp einem Flugzeugabsturz. Die Merkwürdigkeiten häufen sich, sie werden ausgefallener, und machen das Romangeschehen immer bizarrer. Offenbar erfüllen sich Jonas‘ Wünsche tatsächlich – oder sind es bloß Zufälle, die sich ereignen? Wenn es aber bloß Zufälle sind: Wieso geschehen dann gerade nächtens Dinge, die dem Leser Schauer über den Rücken jagen? Was ist dran an der surrealen Szenerie, dass die Stadt plötzlich überflutet ist und man wie in Venedig mit Gondeln fährt? Ist es real? Und wieso nimmt es Jonas‘ Umwelt so gelassen auf?

Glavinic spielt gekonnt mit der Frage nach Realität und Wirklichkeit, er stellt die Frage nach der Existenz und er erkundet das Unterbewusstsein des Menschen. Jonas bekommt gelegentlich nachts Anrufe. Das spielt in der Geschichte nur eine Nebenrolle, aber man erfährt nie, wer es ist? Ist es womöglich er selbst? Ist das das Dunkle, das Unbewusste, das „Es“, das sich rührt? Und welchen Anteil trägt es an den Merkwürdigkeiten, die ihm geschehen? Ist es überhaupt gut, wenn sich all unsere Wünsche erfüllen oder braucht es ein „Wollen“, das unsere Wünsche in die richtige Richtung lenkt? Damit erhält der Roman eine weitere Dimension, auf der man ihn lesen kann.

Das ist die Stärke dieses Romans. Man kann ihn als Gruselgeschichte lesen, als Liebesgeschichte, als psychologischen Versuch, als Beitrag zur Moralphilosophie, als Selbsterkundung, als Frage nach dem Verhältnis von Realität und Vorstellung oder radikaler als die Frage danach, ob es sowas wie Realität gibt. Es ist eine Geschichte über die Vereinzelung des modernen Subjekts, das selbst durch die Liebe nicht vollständig gerettet werden kann, wie das romantisierend gelegentlich geschieht. „Das Leben der Wünsche“ lässt (auch wenn das Ende ein wenig dick aufgetragen ist) den Leser mit Fragezeichen zurück, verwirrt, beklommen, vielleicht sogar ein wenig ängstlich. Ansprechend auf emotionaler wie auf intellektueller Ebene: Besseres kann einem Roman nicht passieren.

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